»Danke, ich kenne den Weg«, sagte ich schroff. Dabei stimmte das nicht ganz. Die Abzweigung hätte ich vermutlich übersehen. Denn in Gedanken war ich immer noch bei dem kurzen Telefonat mit Lucy, meiner Schwester, die ich aus einer Telefonzelle heraus nur drei Blocks von Hertzogs Haus entfernt angerufen hatte. Es war ein merkwürdiges Gespräch gewesen. Als meine Schwester begriffen hatte, wen sie da am Telefon hatte, war ihre an sich ruhige Stimme geradezu umgekippt. »John!«, hatte sie geschrien. »Was zur Hölle ist los? Wo bist du? Wie geht es dir? Was macht Kimberley?« Nachdem ich ihren Wortschwall einigermaßen hatte stoppen können, hatte ich alles versucht, um sie zu beruhigen und ihr gleichzeitig anzudeuten, dass wir in einigen Tagen Hilfe gebrauchen könnten. »Selbstverständlich. Was können wir tun?«, hatte sie gesagt und ich schäme mich nicht, dass meine Augen bei dieser Antwort feucht geworden waren. Ein Stück Kindheitsgeborgenheit schien in diesem Moment durch die Telefonleitung zu kriechen und die Erinnerung an wilde Tage stieg in mir hoch, an gemeinsam durchgestandene Jugendstreiche, an das Vertrauen zwischen uns vier Geschwistern, an dieses unendlich schöne Gefühl zu wissen, dass die anderen immer zu mir halten würden, egal, was geschah. Wir hatten uns vielleicht aus den Augen verloren, und doch war da noch immer dieses alte Gefühl der Verbundenheit, das uns durch unsere Kindheit getragen hatte – und letztlich auch das Gefühl, dass ich in meine Beziehung zu Kimberley mit hatte einbringen können.
Ich setzte den Blinker und bog vorsichtig in die Hauptstraße ein. Das Gespräch mit Lucy hat mir Mut gemacht und doch gleichzeitig verwirrt. Ich hatte ihr kurz und knapp erzählt, was wir vorhatten und dass ich mich nach unserer Stippvisite im Car Paradise wieder bei ihr melden würde. Sie hatte mir im Gegenzug berichtet, dass mein Bruder Ray nach Washington gefahren sei, um mir zu helfen. Das verstand ich nicht. Was konnte Ray dazu bewogen haben, sein alltägliches behütetes Leben aufzugeben, nur um aufs Geratewohl nach Washington zu kommen? Da musste mehr vorgefallen sein als nur eine Familiendiskussion, wie man einem Bruder helfen konnte.
Doch ich kam nicht dazu, den Gedankengang weiterzuverfolgen. Bei einem Blick in den Rückspiegel fiel mir ein grelles Scheinwerferpaar auf, das zuerst auf uns zuschoss und dann wieder zurückfiel. Ich verfluchte die Konstrukteure dieser alten Gurken, die den Wagen nur Rückfenster spendiert hatten, die kaum größer waren als der Sehschlitz eines Panzers. Ich konnte im Rückspiegel einfach nicht genug erkennen, um beurteilen zu können, ob wir verfolgt wurden oder nicht.
»Pass auf«, schrie Kimberley plötzlich. »Du rammst noch den Lastwagen.«
Sie hatte Recht. Ich trat auf die Bremse und der Wagen schlitterte rasiermesserscharf an einem alten, qualmenden Truck vorbei. Einen fürchterlichen Moment verlor ich die Kontrolle über den Wagen, kurbelte wie wild am Lenkrad. Doch dann fing sich der Dodge wieder und ich konnte ihn problemlos an dem Truck vorbeilenken. Als wir auf der Höhe des Führerhauses waren, drückte der Fahrer auf die Hupe. Das brutale Dröhnen ließ mich schmerzhaft zusammenzucken, aber das war ja wahrscheinlich genau das, was der Fahrer beabsichtigt hatte.
»Idiot«, murmelte ich. Dabei meinte ich aber mehr mich als den Truck-Fahrer. Denn ein rascher Blick in den Rückspiegel hatte mich überzeugt, dass außer dem Lastwagen im Augenblick niemand hinter uns war. Wegen eines Hirngespinsts hätte ich beinahe einen Unfall gebaut. Langsam begann ich eine Art Verfolgungswahn zu entwickeln, der letztlich genauso gefährlich sein konnte wie die Gefahr, in der ich und Kim tatsächlich schwebten.
Kimberley verzichtete darauf, mein ungeschicktes Fahrmanöver zu kommentieren. Das war auch besser so. Denn ich brauchte meine ganze Konzentration, um nicht von der Fahrbahn abzukommen. Die huschenden Lichtreflexe und das tiefe Brummen des Motors hatten etwas Einlullendes und ich musste mich mehr als einmal zusammenreißen, um nicht der Trägheit meiner Augenlider nachzugeben. Die Ganglien, Bach, die Ermordung Kennedys und auch dieser merkwürdig knappe Halbsatz Lucys über die kurz entschlossene Reise meines Bruders Ray nach Washington, bevor mein Kleingeld ausgegangen war und ich Genaueres erfahren konnte – all das schrumpfte zu einem unbedeutenden Etwas zusammen angesichts der Erschöpfung, die mich erbarmungslos darauf aufmerksam machte, dass ich am Rande meiner Kraft war.
Obwohl ich erst einmal im Car Paradise gewesen war und mich mehr im Halbschlaf als im Wachzustand befand, funktionierte mein Orientierungssinn erstaunlich gut. Mit geradezu traumwandlerischer Sicherheit steuerte ich durch die Straßen Washingtons, die heute weniger belebt waren als gewöhnlich. Das lag wahrscheinlich nicht nur an dem unangenehmen Nieselregen, sondern auch an der Tatsache, dass sich das wichtigste Machtzentrum der westlichen Welt seit der brutalen Ermordung Kennedys noch immer nicht von seinem Schock erholt hatte.