»Ich hoffe nur, dass Hertzog Unrecht hat«, sagte er rau und gestikulierte mit dem braunen Aktendeckel. »Er hat da ein paar Vermutungen angestellt, die wirklich Besorgnis erregend sind.« Er ging zur Tür. »Sie sollten beten, dass Ihre Freundin wirklich clean ist«, sagte er noch. »Sie sollten beten, dass sie mehr für uns ist als nur ein unkalkulierbarer Risikofaktor.« Er riss die Tür auf. »Ich lasse Sie zu Marcel bringen«, waren seine letzten Worte. »Vielleicht können Sie beide sich gegenseitig etwas darüber beibringen, wie es in der wirklichen Welt aussieht.«
25. November 1963, 4:37
Bach überließ mich entgegen seiner Ankündigung zuerst seinen Männern, aber ich ignorierte ihre Fragen und aus irgendeinem Grund gaben sie sich auch nicht allzu viel Mühe. Sie ließen mich schließlich auf einer Pritsche ein paar Stunden schlafen. Ich war sofort hellwach, als sie mich erneut holten, und ich konnte mich beim besten Willen nicht daran erinnern eingeschlafen zu sein, aber meine Erschöpfung muss so groß gewesen sein, dass nicht einmal der Gedanke an Kimberley und die Gefahr, in der sie sich befand, mich lange hatten wach halten können.
Bach hielt letztlich doch noch Wort. Sie sperrten mich im selben Stockwerk, in dem die Labors lagen, in ein kleines Verhörzimmer mit einem rechteckigen Tisch und zwei Stühlen und einer Wache mit braunem Hemd und weißem Helm vor den Fensterscheiben zum Korridor. Jesse Marcel saß auf einem der Stühle und starrte mich verwirrt und fragend an, als sie hinter mir den Schlüssel im Türschloss zweimal herumdrehten. Ich nehme an, dass er mir Fragen gestellt hat, aber ich ignorierte ihn völlig. Ich verschmähte den Stuhl und ließ mich einfach an der Wand herabgleiten, an der ich gerade stand. So saß ich fast eine Stunde, allein mit Marcel und meinen Gedanken. In dieser endlosen Nacht vor John F. Kennedys Beisetzung, die am frühen Nachmittag des 25. November auf dem Arlington National Cemetery stattfinden sollte, haben vermutlich viele Amerikaner schlecht geschlafen – und dennoch beneidete ich sie um die Normalität ihrer alltäglichen Sorgen, die ich vollends verloren hatte. Gegenüber Bach war es leicht gewesen, alle Zweifel abzustreifen und Kim zu verteidigen. Tatsache war, sie hatte sich verändert, und selbst wenn die ART das fremde Gewebe ganz aus ihrem Körper entfernt hatte, in ihren Erinnerungen und ihrer Persönlichkeit waren tiefe Spuren zurückgeblieben. Und auch in meinen Erinnerungen, gestand ich mir selbst.
Ich dachte an glücklichere Tage, daran, wie aufgeregt ich gewesen war, als ich sie zu unserer ersten Verabredung abgeholt hatte, an die erste Nacht, die wir miteinander verbracht hatten, an den Tag, an dem sie zwei Knöpfe an der Bluse verloren hatte. Ich sah ihr Gesicht wach im Kerzenlicht und schlafend im Mondschein und ich erkannte mit albtraumhafter Gewissheit, dass die anderen, die unsagbar hässlichen Bilder schon damit begonnen hatten, diese Erinnerungen zu durchsetzen und zu überlagern, ganz so, wie sich die Ausläufer eines Schimmelpilzes plötzlich überall auf dem finden, was am Tag zuvor noch unberührt und gesund gewirkt hatte.
Ganz so, wie die Pseudopodien eines Ganglions sich im Körper eines Infizierten ausbreiteten. So, wie sie mehrere Tage lang unbemerkt in Kims Körper gewuchert hatten.
Ich unterdrückte die aufsteigenden Tränen. Ich dachte daran, wie wir uns im Flughafenmotel geliebt hatten, und fragte mich, ob ich das nächstemal, wenn ich sie küsste, vor meinen geschlossenen Augen den grässlichen Kuss sehen würde, mit dem Steel den um seinen Verstand ringenden Ruby zerstört hatte. Ich fragte mich, ob ich an die tastenden Beine der Ganglien würde denken müssen, wenn ich das nächstemal ihre Zunge an der meinen spürte. Was immer Bach hatte erreichen wollen, er hatte in kaum einer Viertelstunde mein ganzes Leben vergiftet. Er hatte zu Ende gebracht, was die Hive begonnen hatten.
»Sie sehen aus, als hätte Sie jemand auf ein Rad gespannt«, sagte Marcel. Ich hatte vollkommen vergessen, dass er dort am Tisch saß.
»Bach?«, fragte er, als sich das Schweigen wieder zu Minuten zu dehnen drohte.
Ich nickte stumm. Mir war nicht nach einem Gespräch zu Mute. Ich wollte nichts als den Rest meines Lebens mit angezogenen Knien und aufgestütztem Kinn in dieser Ecke sitzen, mit dem Rücken an der Wand und dem kalten Beton unter mir.
»Sind Sie okay, Loengard?«