Will man den Lebenslauf des zeitlebens unbehausten Benjamin verfolgen, so empfiehlt sich für ein solch biographisches Interesse der bebilderte Ausstellungsband Walter Benjamin 1892—1940 1990 .
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Dieses und die folgenden Beispiele sollen das Öffnen von Türen, Übertreten von Schwellen und Betreten von Räumen veranschaulichen. Ich beschränke mich dabei auf Belege aus der dichtesten Pariser Fassung letzter Hand, an die sich weitere Belege aus den früheren Fassungen der Berliner Kindheit anschließen ließen. Vgl. etwa die Textstücke “Die Speisekammer” und “Schränke” aus der Adorno-Rexroth-Fassung [ GS , IV.1, 250, 283—287]. – Von der “Poetik der Räume” in der Berliner Kindheit handelt das gleichnamige Unterkapitel in Schneider [Schneider 1986, 134—142]. Brüggemann rekonstruiert “Räume und Augenblicke” der Berliner Kindheit in ihrem kultur– und insbesondere in ihrem architekturgeschichtlichen Kontext [Brüggemann 1989].
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“Hinter der Schwelle dieser Wohnung war ich geborgner als selbst in der elterlichen.” [Blumeshof 12, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 412]
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“Das hat es mit sich gebracht, daß die biographischen Züge, die eher in der Kontinuität als in der Tiefe der Erfahrung sich abzeichnen, in diesen Versuchen ganz zurücktreten.” [Vorwort, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 385] – Bereits in der Berliner Chronik möchte Benjamin seine frühesten Erinnerungen nicht als eine literarische Autobiographie im engeren Sinne verstanden wissen, denn diese “hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.” [ Berliner Chronik , GS , VI, 488]
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Bei Benjamin selbst findet sich eine Formulierung, die von einer gleichzeitigen Präsenz von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft spricht: “[…] und lange ehe diese Orte so verödet lagen, daß sie antiker als Thermen sind, trug dieser Winkel des Zoologischen Gartens die Züge des Kommenden. Es war ein prophetischer Winkel. Denn wie es Pflanzen gibt, von denen man erzählt, daß sie die Kraft besitzen, in die Zukunft sehen zu lassen, so gibt es Orte, die die gleiche Gabe haben. Verlassene sind es meist, auch Wipfel, die gegen Mauern stehn, Sackgassen oder Vorgärten, wo kein Mensch sich jemals aufhält. An solchen Orten scheint es, als sei alles, was eigentlich uns bevorsteht, ein Vergangenes.” [Der Fischotter, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 407] – Aber am prägnantesten formuliert vielleicht ein Satz aus der Einbahnstraße (1928), was den Impetus der Benja-minschen Erinnerung bestimmt. “Wie ultraviolette Strahlen zeigt Erinnerung im Buch des Lebens jedem eine Schrift, die unsichtbar, als Prophetie, den Text glossierte.” [ Einbahnstraße , GS , VI.1, 142] – Auf die scheinbare Paradoxie des Benjaminschen Konzepts von Vergangenheit hat schon Szondi hingewiesen: “Benjamins Zeitform ist nicht das Perfekt, sondern das Futurum der Vergangenheit in seiner ganzen Paradoxie: Zukunft und doch Vergangenheit zu sein.” [Szondi, 1978a, 286]
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Der Strumpf, BerlinerKindheit , GS , VII.1, 416—417. Nicht von ungefähr findet Benjamin für das aufschlussreiche Strumpf-Exempel in verschiedenen Texten Verwendung, so in seinem Essay “Zum Bilde Prousts” [ GS , II.1, 310—324] und in den verschiedenen Fassungen der Berliner Kindheit . In der Adorno-Rexroth-Fassung verknüpft das Textstück “Schränke” [ GS , IV.1, 283—287] eine ausführlichere Strumpf-Sequenz mit der Bücherschrank-Sequenz, die in der Pariser Fassung letzter Hand nicht mehr enthalten ist. Stattdessen nimmt hier die Strumpf-Sequenz das gesamte Kapitel “Der Strumpf” ein. – Zu einem textkritischen Vergleich der Varianten des Textes vgl. die Anmerkungen zur Berliner Kindheit ( Fassung letzter Hand ), GS , VII.2, 697—699.
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