Der Moskau-Aufenthalt Benjamins dauert vom 6. Dezember 1926 bis zum 1. Februar 1927. Zu den Umständen der Reise vgl. das “Vorwort” von Gershom Scholem sowie die “Anmerkungen” von Gary Smith zum Moskauer Tagebuch [Benjamin 1980, 9–15, 177—206], vgl. außerdem die Anmerkungen zu den Denkbildern , GS , IV.2, 987—990 sowie Braese [Braese 1995]. Schlögel [Schlögel 1998] hat “Die Spur Walter Benjamins” in Moskau aufgenommen und in dem gleichnamigen Kapitel seines Buches Moskau lesen. Die Stadt als Buch die Topographie des Moskauer Tagebuches lesbar gemacht. – Während des Moskau-Aufenthaltes verfasst Benjamin ein Tagebuch, dessen Eintragungen vom 9. Dezember 1926 bis zum 1. Februar 1927 datieren. – Aus den Tagebucheintragungen entstehen mehrere Publikationen; die wichtigste ist der Essay “Moskau”, der in der Kreatur , Band 1 (1927), Heft 1, 71–102 erscheint. – Ich zitiere den Essay unter Angabe der Kapitelnummer nach den Gesammelten Schriften , wo er als eines der Denkbilder publiziert ist [“Moskau”, Denkbilder , GS , IV.1, 316—348].
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Benjamin, der neben dem gemeinsam mit Franz Hessel verfassten Text über die Pariser “Passagen” auch das Pariser Städtebild “Paris, die Stadt im Spiegel. Liebeserklärungen der Dichter und Künstler an die ‚Hauptstadt‘ der Welt” (1929) [ Denkbilder , GS , IV.1, 356—359] gezeichnet hat, der darüber hinaus die Städtebilder “Neapel” (1925) (gemeinsam mit Asja Lacis) [ Denkbilder , GS , IV.1, 307—316], “San Gimignano” (1929) [ Denkbilder , GS , IV.1, 364—366], “Marseille” (1929) [ Denkbilder , GS , IV.1, 359—364] und Bergen (1930) [“Nordische See”, Denkbilder , GS , IV.1, 383—387] von seinen Reisen mitgebracht hat, dem viel gereisten Benjamin muss Moskau wie eine alles andere als europäische Stadt erschienen sein. In diesem Sinne versteht sich seine metaphorische Bezeichnung des Moskauer Umgangs mit der Zeit: “Im Zeitgebrauche wird daher der Russe am allerlängsten ‚asiatisch‘ bleiben.” [“Moskau”, 8, GS , IV.1, 329]
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Seine in der synchronen Bewegung mit der Stadt liegende Erkenntnisweise hat Benjamin in einem Brief an Hugo von Hofmannsthal vom 5. Juni 1927 kommentiert: “[Mein] Versuch einer Beschreibung dieses Aufenthaltes […] ist […] noch nicht erschienen. Dort habe ich es unternommen, diejenigen konkreten Lebenserscheinungen, die mich am tiefsten betroffen haben, so wie sie sind und ohne theoretische Exkurse, wenn auch nicht ohne innere Stellungnahme, aufzuzeigen. Natürlich ließ die Unkenntnis der Sprache mich über eine gewisse schmale Schicht nicht hinausdringen. Ich habe aber, mehr noch als an das Optische mich an die rhythmische Erfahrung fixiert, an die Zeit, in der die Menschen dort leben und in der ein ursprünglicher russischer Duktus mit dem neuen der Revolution sich zu einem Ganzen durchdringt, das ich westeuropäischen Maßen noch weit inkommensurabler fand als ich erwartet hatte.” [zitiert nach den Anmerkungen zu den Denkbildern , GS , IV.2, 989]
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So lautet ein Ausdruck Benjamins aus der BerlinerKindheit : “So war es um diese Stunde immer: nur die Stimme des Kindermädchens störte den Vollzug, mit dem der Wintermorgen mich den Dingen in meinem Zimmer anzutrauen pflegte.” [Wintermorgen, Berliner Kindheit , GS , VII.1, 398] – Benjamin erscheint in den Moskau– ebenso wie in den Berlin-Texten mit einer Andacht für die Dinge, wie sie vorbildlicher für jene Berliner Kinder nicht hätte sein können, für die er seine Rundfunkgeschichten schrieb. In dem Beitrag “Berliner Spielzeugwanderung I” [ Rundfunkgeschichten für Kinder , GS , VII, 98–105] empfiehlt er eine Kennerschaft um die vermeintlich nebensächlichen Dinge statt eines bloß zweckrationalen oder gar konsumorientierten Umgangs mit diesen, damit sie sich entdecken mögen. “Je mehr ein Mensch von einer Sache versteht und je mehr er weiß, wieviel Schönes von einer bestimmten Art es gibt – ob das nun Blumen, Bücher, Kleider oder Spielsachen sind —, desto mehr kann er an allem, was er davon weiß und sieht, seine Freude haben, desto weniger ist er darauf versessen, es gleich zu besitzen, sich zu kaufen oder schenken zu lassen.” [ Rundfunkgeschichten für Kinder , GS , VII, 104]
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