Als nach wenigen Stunden Schlaf der Wecker klingelte, standen Herta und Nadja rasch auf: sie wollten ja zur Abschiedsfeier in die Schule! Per Telefon riefen sie auch Kurt wach, und während sie sich wuschen, kämmten und ankleideten, kam es zu folgendem Gespräch 2.
WIRD NADJA IHREN MANN STEHEN?
N a d j a: In der Schule hatte ich nie Angst vor Prüfungen. Ich habe sie immer gut bestanden. Aber jetzt, im Leben...
H e r t a: Nur keine Angst! Nadja, Sie werden schon ihren Mann stehen.
N a d j a: Meinen Mann stehen?
H e r t a: Daran habe ich nie gezweifelt.
N a d j a: Dann verstehe ich nichts. Glauben Sie, daß ein Mann mehr wert ist als eine Frau?
1 seinen Mann stehen — уметь постоять за себя; не ударить лицом в грязь
2 Es kam zu einem Gespräch. — Завязалась беседа.
H e r t a: Nein, liebe Nadja. Aber die alten Germanen, die diese Redewendung geschaffen haben, sie haben das fest geglaubt. Übrigens, «Mann» ist ja hier «Soldat, Kämpfer». Er mußte im Kampf seinen Mann stehen, d. h. er durfte nicht fliehen vor der Gefahr.
N a d j a: Wenn die alten Germanen Sie gekannt hätten, Herta! Da hätten sie anders über die Frauen gedacht!
H e r t a: Und Sie, Nadja! — Jetzt schmieren wir uns beide Honig um den Bart 1.
N a d j a: Das können wir nicht, weil wir keine Bärte haben! Auch diese Redewendung haben die Männer geschaffen, ohne an uns zu denken.
Inzwischen war Kurt erschienen. Nachdem sie einen kleinen Imbiß zu sich genommen hatten 2, gingen sie zu dritt zur Abschiedsfeier der 10. Klasse in Nadjas Schule.
1. Episode: WENN MAN ABSCHIED NIMMT...
Der Abend in der Schule war sehr schön. Aber gegen ein Uhr nachts mußte man schließlich doch nach Hause fahren. Denn um sechs Uhr früh begann ja der Arbeitstag. Auch für Nadja. Da konnte sie sich mit Händen und Füßen wehren 3 — sie wollte natürlich noch bleiben — es half ihr aber nichts. Sie mußte ins Bett.
Am frühesten Morgen waren sie dann schon zu dritt auf dem Roten Platz, Kurt mit der Filmkamera. Viele Gruppen fröhlicher Mädchen und Jungen in festlichen Kleidern hatten sich hier eingefunden, machten Spiele, sangen zur Gitarre ihre liebsten Lieder, tanzten zur Ziehharmonika und zogen scherzend und lachend in langen Reihen zum Ufer der Moskwa hinunter.
K u r t
H e r t a: Du, Kurt, vielleicht beginnen wir unsern Film gerade mit dieser Szene?
1 jemandem Honig um den Bart schmieren — льстить кому-либо
2 einen Imbiß zu sich nehmen (einnehmen) — закусывать
3 sich mit Händen und Füßen wehren — отбиваться руками и ногами (всеми средствами)
N a d j a: Glänzender Gedanke! Das wird bei allen sofort Interesse erwecken 1.
H e r t a: Nur eins verstehe ich nicht. Abschied von der Schule, von guten Kameraden, das muß ja eigentlich weh tun. Warum sind denn alle so fröhlich?
N a d j a: Weil sie etwas noch Schöneres erwartet — interessante Arbeit, wie bei mir, oder Studium. Und noch etwas: wir verlieren ja weder die Schule noch die Freunde und Kameraden. Wir werden sie oft sehen, Verzeihung, zu Gesicht bekommen 2. In der Schule findet jedes Jahr ein Treffen früherer Schüler statt.
K u r t: Und warum sagen Sie wieder «zu Gesicht bekommen» anstatt des einfachen Wortes «sehen»? Das paßt hier gar nicht.
N a d j a: Und wo paßt es?
K u r t: Hm. Stellen Sie sich vor: ein alter Freund hat Sie sehr lange nicht besucht und kommt nun eines Tages zu Ihnen. Sie begrüßen ihn mit den leicht ironischen Worten: «Ein Wunder, daß man dich mal wieder zu Gesicht bekommt!» Ist das klar? — Nadja, ich bitte Sie von ganzem Herzen: nehmen Sie Abschied von solchen unnötigen Redewendungen, wenigstens in der Umgangssprache.
N a d j a: Aha, «Abschied nehmen»! Das ist doch auch Phraseologie!
2. Episode: UNTER ALLER KANONE 3
Bis neun Uhr morgens gingen Herta, Nadja und Kurt im Zentrum spazieren. Punkt neun 4 standen sie vor dem Kreml. Sie schlossen sich einer Gruppe von deutschen Touristen an, deren Dolmetscher in deutscher Sprache Erklärungen gab. Sie sahen die Stellen, die mit Lenins Namen verbunden sind, sie bewunderten die zahlreichen Denkmäler alter und neuer Geschichte, an denen der Kreml so reich ist. Kurt filmte alles, was für die Menschen in der DDR von Interesse sein 5 konnte.
1 interesse erwecken (auslösen, erregen, hervorrufen) — вызывать (вызвать) интерес
2 См. стр. 18, сноску 1. [zu Gesicht bekommen — увидеть]
3 unter aller Kanone — ниже всякой критики
4 Punkt neun — точно в девять
5 von Interesse sein — представлять интерес
Jetzt standen sie vor der Riesenkanone, Zar-Puschka, die im Jahre 1586 gegossen worden ist.
K u r t: Großartig, dieses alte Geschütz!
N a d j a: Ja, nicht wahr? — Übrigens: Gibt es Redewendungen mit dem Wort «Kanone»?