K u r t: Nun, stellen Sie sich vor: es beginnt zu regnen. Sie suchen Schutz an einer Hausmauer. Aber hier ist es noch schlimmer: vom Dach herunter rinnt das Wasser aus der Traufe gerade auf Ihren Kopf. Ihre Lage hat sich also verschlechtert. Darum sagt man, wenn ein Mensch aus einer schlimmen Lage in eine noch schlimmere gerät: «Er ist vom Regen in die Traufe gekommen.»
6) Und der Himmel hängt voller Geigen 3
N a d j a: Jetzt kommt der «Himmel» an die Reihe!
H e r t a: Wenn man 18 Jahre alt ist, Nadja, hängt einem der Himmel voller Geigen.
N a d j a: Das ist ein schönes Bild. Woher kommt es denn? Wer spielt im Himmel Geige?
K u r t: Ja, das weiß ich auch nicht. Es muß ja ein ganzes Streichorchester sein!
H e r t a: Ich erinnere mich, daß ich in Museen und in alten Kirchen Gemälde gesehen habe. Da machen kleine Engel über den Wolken Musik. So leben oft alte Vorstellungen, an die man längst nicht mehr glaubt, in unseren Redewendungen weiter.
7) Zu Wasser und zu Lande 4
N a d j a: Es gibt ein Wortpaar: zu Wasser und zu Lande. Warum steht hier die Präposition «zu» und nicht «auf» oder «in»?
K u r t: «Auf dem Land sein» bedeutet: außerhalb der Stadt sein.
N a d j a: За городом, в деревне. Das kenne ich.
1 ein Gewitter (eine Gefahr) ist im Anzug — надвигается гроза (опасность)
2 vom Regen in die Traufe kommen — попасть из огня да в полымя
3 Der Himmel hängt ihm voller Geigen. — Он видит всё в розовом свете.
4 zu Wasser — на воде; zu Lande — на суше
H e r t a: Früher wurde die Präposition «zu» überhaupt viel öfter gebraucht als jetzt.
K o r n e j e w: Das hat sich noch in den Redewendungen: zu Fuß, zu Hause, zu Pferd, zu zweit, zu dritt usw. erhalten.
H e r t a: Ganz richtig. Aber da Sie mit «Wasser» angefangen haben, Nadja ... Wissen Sie vielleicht etwas mit «Wasser»?
N a d j a: O ja! Pläne können «zu Wasser werden 1» oder «ins Wasser fallen 2», wenn man sie nicht erfüllt. Ein Unternehmen, eine Reise, ein Besuch, ein Ausflug können auch «zu Wasser werden» oder «ins Wasser fallen», wenn man sie nicht ausführt.
H e r t a: Kurt, siehst du, wieviel Redewendungen unsere kleine Nadja kennt und wie gut sie alles erklären kann!
K u r t: Ja, ja. Stille Wasser gründen tief. 3
N a d j a: O, ich weiß, Herr Bruck hat es lieber, wenn ich Fehler mache, denn das ist Wasser auf seine Mühle 4, dann kann er mich hänseln.
K u r t: Aber Nadja ...!
8) Halten Sie nicht hinterm Berge 5!
N a d j a: Jetzt kommt der «Berg» an die Reihe. Herr Bruck, lieben Sie die Berge?
K u r t: Natürlich. Wer liebt denn die Berge nicht?
N a d j a: Dann halten Sie bitte nicht mit Ihrer Meinung hinterm Berge und sagen Sie mir offen, was Sie von mir denken.
K u r t: Wieso halte ich hinterm Berge? Wie Sie sehen, halte ich gar nicht hinter einem Berg. Ich sitze im Hotel Berlin. Wo sehen Sie denn hier Berge?
N a d j a: Da hört aber doch alle Gemütlichkeit auf! 6 Sie wollen mir wohl ein X für ein U vormachen? Ich soll wohl glauben, daß Sie nicht wissen, was «hinterm Berge halten» heißt?
H e r t a: Liebe Nadja, er weiß es natürlich sehr gut. Und Sie haben ganz richtig gesprochen. Regen Sie sich nicht auf!
1 zu Wasser werden — кончиться ничем; не получиться
2 ins Wasser fallen — провалиться, расстроиться; пойти насмарку
3 Stille Wasser gründen tief. (
4 das ist Wasser auf seine Mühle — это ему на руку
5 mit etwas hinterm Berge halten — скрывать, замалчивать что-либо
6 Da hört (aber doch) alle Gemütlichkeit auf! Это неслыханно! Это уж чересчур!
Ich weiß übrigens nicht, woher dieser Ausdruck stammt. Wenn Sie es wissen, Genosse Kornejew, so halten Sie bitte nicht hinterm Berge mit Ihrem Wissen und sagen Sie es uns!
K o r n e j e w: Der Ausdruck stammt von den Soldaten. Für eine marschierende Truppe sind Berge immer wichtig und oft gefahrvoll. Wo ist der Feind? Vielleicht hinter jenem Berge? Wo hält er sich versteckt? So fragt sich jeder. Verstehen Sie jetzt, was das bedeutet: «hinter dem Berge halten»?
N a d j a: Danke, jetzt sind wir im Bilde.
9) Wenn man den Wald vor lauter Bäumen nicht sieht 1...
N a d j a: Ja, die Berge ... Hier bei Moskau gibt es keine hohen Berge. Aber Wälder gibt es, herrliche Wälder! — Wer weiß eine Redewendung mit «Wald»?
1 den Wald vor (lauter) Bäumen nicht sehen — за деревьями не видеть леса
H e r t a: Ich. Es ist schlecht, wenn ein Mensch vor Bäumen den Wald nicht sieht.
N a d j a: Hand aufs Herz, Herta, ist das auf mich gemünzt 1 und auf meine Redewendungen?
H e r t a: Offen gestanden: ja! Liebe Nadja, Sie sehen in der deutschen Sprache nur die Redewendungen, also nur einzelne Erscheinungen. Die Sprache als Ganzes interessiert Sie zu wenig.