Seine Kameraden spielten vor den Mädchen die Helden und machten sich mit lateinischen Redensarten wichtig, die sie in die Unterhaltung mischten. Alle drei schienen bei der Magd in Gunst zu stehen, sie näherten sich ihr je und je mit ihren kleinen, linkischen Liebkosungen, deren zärtlichste ein scheuer Kuss war. Sie schienen genau zu wissen, was ihnen hier erlaubt sei. Und da die ganze Unterhaltung im Flüsterton geführt werden musste, hatte die Szene eigentlich etwas Komisches, doch Goldmund empfand nicht so. Er kauerte still am Boden und blickte starr ins Flämmlein der Ampel, ohne ein Wort von sich zu geben. Zuweilen fing er mit etwas begehrlichem Seitenblick eine der Zärtlichkeiten auf, die zwischen den andern getauscht wurden. Steif blickte er vor sich hin. Am liebsten aber hätte er nichts anderes angeschaut als die Kleine mit den Zöpfen, aber gerade dies verbot er sich. Immer aber, wenn einmal sein Wille nachließ und sein Blick sich zu dem stillen süßen Mädchengesicht hinüber verirrte, fand er unfehlbar ihre dunklen Augen auf sein Gesicht geheftet, wie verzaubert starrte sie ihn an.
Eine Stunde war vielleicht vergangen – nie hatte Goldmund eine so lange Stunde erlebt – da waren Redensarten und Zärtlichkeiten der Schüler erschöpft, es wurde still, und man saß etwas verlegen, Eberhard fing an zu gähnen. Da mahnte die Magd zum Aufbruch. Alle erhoben sich, alle gaben der Magd die Hand, Goldmund zuletzt. Dann gaben sie alle der Jungen die Hand, Goldmund zuletzt. Dann stieg Konrad voran aus dem Fenster, ihm folgten Eberhard und Adolf. Als auch Goldmund hinausstieg, fühlte er sich von einer Hand an der Schulter zurückgehalten. Er konnte nicht anhalten;
erst als er draußen am Boden stand, wandte er sich zögernd um. Aus dem Fenster beugte sich die Junge mit den Zöpfen.
»Goldmund!« flüsterte sie. Er blieb stehen.
»Kommst du einmal wieder?« fragte sie. Ihre schüchterne Stimme war nur ein Hauch.
Goldmund schüttelte den Kopf. Sie streckte ihre beiden Hände aus, fasste seinen Kopf, warm fühlte er die kleinen Hände an seinen Schläfen. Sie beugte sich tief herab, bis ihre dunklen Augen dicht vor den seinen waren.
»Komm wieder!« flüsterte sie, und ihr Mund berührte den seinen in einem kindlichen Kuss.
Schnell lief er den andern nach durch den kleinen Garten, taumelte über die Beete, roch feuchte Erde und Mist, riss sich die Hand an einem Rosenstrauch wund, kletterte über den Zaun und trabte den andern nach zum Dorf hinaus, dem Walde entgegen. »Niemals mehr!« sagte befehlend sein Wille. »Morgen wieder!« flehte schluchzend sein Herz.
Niemand begegnete den Nachtvögeln, unbehelligt kamen sie nach Mariabronn zurück, über den Bach, durch die Mühle, über den Lindenplatz und auf Schleichwegen über Vordächer und durch säulengeteilte Fenster ins Kloster und in den Schlafsaal.
Am Morgen musste der lange Eberhard mit Püffen geweckt werden, so schwer war sein Schlaf. Alle waren sie rechtzeitig in der Frühmesse, bei der Morgensuppe und im Hörsaal; aber Goldmund sah schlecht aus, so schlecht, dass Pater Martin ihn fragte, ob er krank sei. Adolf warf ihm einen warnenden Blick zu, und er sagte, ihm fehle nichts. Im Griechischen aber, gegen Mittag, ließ Narziss ihn nicht aus den Augen. Auch er sah, dass Goldmund krank sei, schwieg aber und beobachtete ihn scharf. Am Ende der Lektion rief er ihn zu sich. Um die Schüler nicht aufmerksam zu machen, schickte er ihn mit einem Auftrag in die Bibliothek. Dorthin ging er ihm nach.
»Goldmund«, sagte er, »kann ich dir beistehen? Ich sehe, dass du in Not bist. Vielleicht bist du krank. Dann legen wir dich zu Bett und schicken dir eine Krankensuppe und ein Glas Wein. Du hast heut keinen Kopf fürs Griechische.«
Lange wartete er auf eine Antwort. Aus verstörten Augen sah der bleiche Knabe zu ihm her, senkte den Kopf, hob ihn wieder, zuckte mit den Lippen, wollte sprechen, konnte es nicht. Plötzlich sank er zur Seite, lehnte den Kopf auf ein Lesepult, zwischen die beiden kleinen Engelsköpfe aus Eichenholz, die das Pult einfassten, und brach in ein solches Weinen aus, dass Narziss sich verlegen fühlte und eine Weile den Blick abwandte, ehe er den Schluchzenden anfasste und aufhob.
»Nun ja«, sagte er freundlicher, als Goldmund ihn je hatte sprechen hören, »nun ja, amice[17]
, weine nur, es wird dir bald besser sein. So, setz dich, du brauchst nicht zu sprechen. Ich sehe, du hast genug; wahrscheinlich hast du schon den ganzen Morgen Mühe gehabt, dich aufrecht zu halten und dir nichts anmerken zu lassen, sehr brav hast du das gemacht. Weine jetzt nur, es ist das Beste, was du tun kannst. Nein? Schon fertig? Schon wieder aufrecht? Nun ja, dann gehn wir jetzt in die Krankenstube, und du legst dich ins Bett, und heut abend wird dir schon viel besser sein. Komm nur!«