Abt und Novize, jeder trug auf seine Art das Schicksal des Auserwählten, herrschte auf seine Art, litt auf seine Art. Jeder der beiden fühlte sich dem andern mehr verwandt und mehr zu ihm hingezogen als zum ganzen übrigen Klostervolk; dennoch fanden sie nicht zueinander, dennoch konnte keiner beim andern warm werden. Der Abt behandelte den Jüngling mit größter Sorgfalt, mit größter Rücksicht, hatte um ihn Sorge als um einen seltenen, zarten, vielleicht allzufrüh gereiften, vielleicht gefährdeten Bruder. Der Jüngling nahm jeden Befehl, jeden Rat, jedes Lob des Abtes mit vollkommener Haltung entgegen, widersprach niemals, war nie verstimmt, und wenn das Urteil des Abtes über ihn richtig und sein einziges Laster der Hochmut war, so wusste er dies Laster wunderbar zu verbergen. Es war gegen ihn nichts zu sagen, er war vollkommen, er war allen überlegen. Nur wurden wenige ihm wirklich Freund, außer den Gelehrten, nur umgab seine Vornehmheit ihn wie eine erkältende Luft.
»Narziss«, sagte der Abt nach einer Beichte zu ihm, »ich bekenne mich eines harten Urteils über dich schuldig. Ich habe dich oft für hochmütig gehalten, und vielleicht tat ich dir damit unrecht. Du bist sehr allein, junger Bruder, du bist einsam, du hast Bewunderer, aber keine Freunde. Ich wollte wohl, ich hätte Anlass, dich zuweilen zu tadeln; aber es ist kein Anlass. Ich wollte wohl, du wärest manchmal unartig, wie es junge Leute deines Alters sonst leicht sind. Du bist es nie. Ich sorge mich zuweilen ein wenig um dich, Narziss.« Der Junge schlug seine dunklen Augen zu dem Alten auf.
»Ich wünsche sehr, gnädiger Vater, Euch keine Sorge zu machen. Es mag wohl sein, dass ich hochmütig bin, gnädiger Vater. Ich bitte Euch, mich dafür zu strafen. Ich habe selbst zuzeiten den Wunsch, mich zu strafen. Schickt mich in eine Einsiedelei, Vater, oder lasset mich niedere Dienste tun.«
»Für beides bist du zu jung, lieber Bruder«, sagte der Abt. »Überdies bist du der Sprachen und des Denkens in hohem Grade fähig, mein Sohn; es wäre eine Vergeudung dieser Gottesgaben, wollte ich dir niedere Dienste auftragen. Wahrscheinlich wirst du wohl ein Lehrer und Gelehrter werden. Wünschest du dies nicht selbst?«
»Verzeiht, Vater, ich weiß über meine Wünsche nicht so sehr genau Bescheid. Ich werde stets Freude an den Wissenschaften haben, wie sollte es anders sein? Aber ich glaube nicht, dass die Wissenschaften mein einziges Gebiet sein werden. Es mögen ja nicht immer die Wünsche sein, die eines Menschen Schicksal und Sendung bestimmen, sondern anderes, Vorbestimmtes.«
Der Abt horchte und wurde ernst. Dennoch stand ein Lächeln auf seinem alten Gesicht, als er sagte: »Soviel ich die Menschen habe kennen lernen, neigen wir, zumal in der Jugend, alle ein wenig dazu, die Vorsehung und unsere Wünsche miteinander zu verwechseln. Aber sage mir, da du deine Bestimmung vorauszuwissen glaubst, ein Wort darüber. Wozu denn glaubst du bestimmt zu sein?« Narziss schloss seine dunklen Augen halb, dass sie unter den langen schwarzen Wimpern verschwanden. Er schwieg.
»Sprich, mein Sohn«, mahnte nach langem Warten der Abt. Mit leiser Stimme und gesenkten Augen begann Narziss zu sprechen.
»Ich glaube zu wissen, gnädiger Vater, dass ich vor allem zum Klosterleben bestimmt bin. Ich werde, so glaube ich, Mönch werden, Priester werden, Subprior und vielleicht Abt werden. Ich glaube dies nicht, weil ich es wünsche. Mein Wunsch geht nicht nach Ämtern. Aber sie werden mir auferlegt werden.«
Lange schwiegen beide.
»Warum hast du diesen Glauben?« fragte zögernd der Alte. »Welche Eigenschaft in dir, außer der Gelehrsamkeit, ist es wohl, die in diesem Glauben zu Wort kommt[8]
?«»Es ist die Eigenschaft«, sagte Narziss langsam, »dass ich ein Gefühl für die Art und Bestimmung der Menschen habe, nicht nur für meine eigene, auch für die der andern. Diese Eigenschaft zwingt mich, den andern dadurch zu dienen, dass ich sie beherrsche. Wäre ich nicht zum Klosterleben geboren, so würde ich Richter oder Staatsmann werden müssen.
»Mag sein«, nickte der Abt. »Hast du deine Fähigkeit, Menschen und ihre Schicksale zu erkennen, an Beispielen erprobt?«
»Ich habe sie erprobt.«
»Bist du bereit, mir ein Beispiel zu nennen?«
»Ich bin bereit.«
»Gut. Da ich nicht in die Geheimnisse unserer Brüder ohne deren Wissen eindringen möchte, magst du mir vielleicht sagen, was du über mich, deinen Abt Daniel, zu wissen meinst.«
Narziss hob seine Lider und blickte dem Abt in die Augen.
»Ist es Euer Befehl, gnädiger Vater?«
»Mein Befehl.«
»Es fällt mir schwer, zu sprechen, Vater.«
»Auch mir fällt es schwer, junger Bruder, dich zum Sprechen zu zwingen. Ich tue es dennoch. Sprich!«