Narziss senkte den Kopf und sagte flüsternd: »Es ist wenig, was ich von Euch weiß, verehrter Vater. Ich weiß, dass Ihr ein Diener Gottes seid, dem es lieber wäre, Ziegen zu hüten oder in einer Einsiedelei das Glöckchen zu läuten und die Beichten der Bauern anzuhören, als ein großes Kloster zu regieren. Ich weiß, dass Ihr eine besondere Liebe zur heiligen Mutter Gottes habet und zu ihr am meisten betet. Ihr betet zuweilen darum, dass die griechischen und anderen Wissenschaften, die in diesem Kloster gepflegt werden, keine Verwirrung und Gefahr für die Seelen Eurer Anbefohlenen sein mögen. Ihr betet zuweilen, dass Euch gegen den Subprior Gregor die Geduld nicht verlasse. Ihr betet zuweilen um ein sanftes Ende. Und Ihr werdet, so glaube ich, erhört werden und ein sanftes Ende haben.«
Still war es in dem kleinen Sprechzimmer des Abtes. Endlich sprach der Alte.
»Du bist ein Schwärmer und hast Gesichte[9]
«, sagte der greise Herr freundlich. »Auch fromme und freundliche Gesichte können täuschen; verlass dich nicht auf sie, wie auch ich mich nicht auf sie verlasse. – Kannst du sehen, Bruder Schwärmer, was ich über diese Sache im Herzen denke?«»Ich kann sehen, Vater, dass Ihr sehr freundlich darüber denket. Ihr denket das Folgende: »Dieser junge Schüler ist ein wenig gefährdet, er hat Gesichte, er hat vielleicht zu viel meditiert. Ich könnte ihm vielleicht eine Buße auferlegen, sie wird ihm nicht schaden. Ich werde aber die Buße, die ich ihm auferlege, auch selbst auf mich nehmen.« Dies ist es, was Ihr soeben denket.«
Der Abt erhob sich. Lächelnd winkte er dem Novizen, sich zu verabschieden.
»Es ist gut«, sagte er. »Nimm deine Gesichte nicht allzu ernst, junger Bruder; Gott fordert noch manches andere von uns, als Gesichte zu haben. Nehmen wir an, du habest einem alten Manne damit geschmeichelt, dass du ihm einen leichten Tod versprachst. Nehmen wir an, der alte Mann habe einen Augenblick lang diese Versprechung gern gehört. Es ist nun genug. Du sollst einen Rosenkranz beten[10]
, morgen nach der Frühmesse, du sollst ihn mit Demut und Hingabe beten und nicht obenhin, und ich werde dasselbe tun. Geh nun, Narziss, es ist genug geredet.«Ein andermal hatte der Abt Daniel zu schlichten zwischen dem jüngsten der lehrenden Patres und Narziss, die sich über einen Punkt im Lehrplan nicht einigen konnten: Narziss drang mit großem Eifer auf die Einführung gewisser Änderungen im Unterricht, wusste sie auch mit überzeugenden Gründen zu rechtfertigen; Pater Lorenz aber, aus einer Art von Eifersucht, wollte nicht darauf eingehen, und jeder neuen Besprechung folgten Tage eines verstimmten Schweigens und Schmollens, bis Narziss im Gefühl des Rechthabens nochmals mit der Sache anfing. Schließlich sagte Pater Lorenz, etwas gekränkt: »Nun, Narziss, wir wollen dem Streit ein Ende machen. Du weißt ja, dass die Entscheidung bei mir und nicht bei dir läge, du bist nicht mein Kollege, sondern mein Gehilfe und hast dich mir zu fügen. Aber da die Sache dir gar so wichtig scheint und da ich dir zwar an Amtsgewalt, nicht aber an Wissen und Gaben überlegen bin, will ich nicht selbst die Entscheidung treffen[11]
, sondern wir werden sie unserem Vater Abt vortragen und ihn entscheiden lassen.«So taten sie denn, und Abt Daniel hörte den Streit der beiden Gelehrten über ihre Auffassung des Unterrichts in der Grammatik geduldig und freundlich an. Nachdem sie beide ihre Meinungen ausführlich dargelegt und begründet hatten, blickte der alte Mann sie fröhlich an, schüttelte ein wenig das greise Haupt und sprach: »Liebe Brüder, ihr glaubet ja wohl beide nicht, dass ich von diesen Sachen ebenso viel verstünde wie ihr. Es ist löblich von Narziss, dass die Schule ihm so sehr am Herzen liegt und dass er den Lehrplan zu verbessern strebt. Wenn aber sein Vorgesetzter anderer Meinung ist, so hat Narziss zu schweigen und zu gehorchen, und alle Verbesserungen der Schule wögen es nicht auf, wenn ihretwegen Ordnung und Gehorsam in diesem Haus gestört würden. Ich tadle Narziss, dass er nicht nachzugeben wusste. Und euch beiden jungen Gelehrten wünsche ich, es möge euch nie an Vorgesetzten mangeln, welche dümmer sind als ihr; nichts ist besser gegen den Hochmut.« Mit diesem gutmütigen Scherz entließ er sie. Aber er vergaß keineswegs, während der nächsten Tage ein Auge darauf zu haben, ob zwischen den beiden Lehrern wieder ein gutes Einvernehmen bestehe.