Claire hatte wenig gesagt und fast nichts gegessen, sondern reglos und in sich gekehrt dagesessen, still und friedlich wie ein Bergsee in der Sonne. Nach dem Abendessen hatte sie Müdigkeit vorgeschoben und sich entschuldigt, um sich auf die breite Fensterbank am Ende des Flurs zu setzen. Brianna hatte einen raschen Blick auf ihre Mutter geworfen, die am Fenster vom letzten Licht der sinkenden Sonne umrahmt wurde, und war in die Küche gegangen, um Fiona beim Abwasch zu helfen. Roger, dem Fionas gutes Essen schwer im Magen lag, war ins Studierzimmer gegangen, um zu überlegen.
Zwei Stunden später überlegte er immer noch und war bemerkenswert wenig weitergekommen. Bücher lagen unordentlich auf Tisch und Sekretär aufgestapelt, lagen halb aufgeschlagen auf den Sitzflächen der Sessel und an der Sofalehne, und auf den Bücherborden klafften Löcher, die von den Mühen seiner planlosen Suche kündeten.
Es hatte eine Weile gedauert, doch er hatte ihn gefunden – den kurzen Abschnitt, an den er sich von seiner Suche in Claires Auftrag erinnerte. Die Ergebnisse dieser Suche hatten ihr Trost und Frieden gebracht; das würde jetzt anders sein – wenn er es ihr erzählte. Und wenn er recht hatte? Doch es musste so sein; das erklärte auch das abgelegene Grab, so weit von Culloden entfernt.
Er rieb sich das Gesicht und spürte Bartstoppeln. Alles in allem nicht überraschend, dass er vergessen hatte, sich zu rasieren. Wenn er die Augen schloss, konnte er nach wie vor Rauch und Blut riechen; das Gleißen des Feuers auf schwarzem Felsen sehen und die wehenden blonden Haarsträhnen, knapp außerhalb seiner Reichweite. Die Erinnerung ließ ihn erschauern, und plötzlich überkam ihn heftiger Groll. Claire hatte ihm den Seelenfrieden geraubt; war er ihr nicht dasselbe schuldig? Und Brianna – da sie jetzt die Wahrheit kannte, sollte sie nicht alles erfahren?
Claire saß immer noch am Ende des Flurs auf der Fensterbank, die Füße untergeschlagen, und blickte in die schwarze Leere des nachterfüllten Fensters hinaus.
»Claire?« Seine Stimme kratzte, weil er sie so lange nicht benutzt hatte, und er räusperte sich und versuchte es erneut. »Claire. Ich … muss dir etwas sagen.«
Sie wandte sich ihm zu und hob den Kopf, doch in ihrem Gesicht war nicht mehr als ein Hauch von Neugier zu sehen. Es trug einen Ausdruck der Ruhe, den Ausdruck eines Menschen, der Schrecken, Verzweiflung und Trauer und die verzweifelte Bürde des Überlebens getragen – und alles überstanden hat. Er sah sie an und glaubte plötzlich, es nicht zu können.
Doch sie hatte die Wahrheit gesagt; er musste dasselbe tun.
»Ich habe etwas gefunden.« Er hob das Buch in einer knappen, nutzlosen Geste. »Über … Jamie.« Den Namen laut auszusprechen, schien ihm Kraft zu verleihen, als sei der schottische Hüne vom Klang seines Namens heraufbeschworen worden und stünde nun leibhaftig und reglos im Flur zwischen seiner Frau und Roger. Roger holte tief Luft, dann war er bereit.
»Was denn?«
»Was er als Letztes vorhatte. Ich glaube … ich glaube, er hat es nicht geschafft.«
Ihr Gesicht erbleichte plötzlich, und sie blickte mit weit aufgerissenen Augen auf das Buch.
»Seine Männer? Aber ich dachte, du hättest herausgefunden …«
»Das habe ich auch«, unterbrach Roger. »Nein, ich bin mir ziemlich sicher, dass ihm das gelungen ist. Er hat die Männer aus Lallybroch beiseitegeschafft; er hat sie vor Culloden gerettet und sie auf den Heimweg geschickt.«
»Aber dann …«
»Er hatte vor zurückzukehren – zurück in die Schlacht –, und ich glaube, auch das hat er getan.« Seine Zurückhaltung wuchs, doch es musste gesagt werden. Da er selbst keine Worte fand, schlug er das Buch auf und las vor:
Leise wiederholte er den letzten Satz.
»Er hatte vor, auf dem Feld von Culloden zu sterben«, flüsterte Roger. »Doch es ist anders gekommen.«
Danksagung
Der Dank und die besten Wünsche der Autorin gehen an …