Jetzt stand Brianna über das Sofa gebeugt, auf dem ihre Mutter lag, reglos wie eine Grabfigur auf einem Sarkophag. Erschauernd hatte Roger den Kamin vermieden, in dem die Glut des Feuers schlief, und hatte stattdessen die kleine Elektroheizung herbeigeschoben, mit der sich der Reverend an den Winterabenden die Füße gewärmt hatte. Ihre Rippen glühten heiß und orange, und ihr lautes, freundliches Surren übertönte das Schweigen des Studierzimmers.
Roger setzte sich auf einen kleinen Hocker neben dem Sofa und fühlte sich wie weichgespült. Mit letzter Kraft griff er nach dem Telefontischchen, und seine Hand schwebte ein paar Zentimeter über dem Apparat.
»Sollten wir nicht …« Er musste innehalten, um sich zu räuspern. »Sollten wir nicht … einen Arzt rufen? Die Polizei?«
»Nein«, sagte Brianna beinahe geistesabwesend, während sie sich über die reglose Gestalt auf der Couch beugte. »Sie kommt zu sich.«
Augenlider zuckten, spannten sich kurz an, als die Erinnerung an den Schmerz zurückkehrte, dann entspannten und öffneten sie sich. Ihre Augen waren klar und sanft wie Honig. Sie wanderten hin und her, überflogen Brianna, die aufrecht und starr an seiner Seite stand, dann hefteten sie sich auf Rogers Gesicht.
Claires Lippen waren so blutleer wie ihr restliches Gesicht; sie brauchte mehr als einen Versuch, die Worte als heiseres Flüstern hervorzubringen.
»Ist sie … zurückgegangen?«
Sie hatte die Finger in den Stoff ihres Rockes geknotet, und er sah den schwachen, dunklen Streifen aus Blut, den sie dort hinterließen. Instinktiv klammerten sich seine eigenen Hände an seine Knie, und seine Handflächen kribbelten. Auch sie hatte sich also festgehalten, in Gras und Kies nach dem kleinsten Halt gesucht, um nicht von der Vergangenheit verschlungen zu werden. Er schloss die Augen bei der Erinnerung an diesen reißenden Sog und nickte.
»Ja«, sagte er. »Das ist sie.«
Die klaren Augen hoben sich augenblicklich zum Gesicht ihrer Tochter, und die Augenbrauen darüber krümmten sich wie fragend. Doch es war Brianna, die die Frage stellte.
»Dann ist es also wahr?«, fragte sie zögernd. »Es ist alles wahr?«
Roger spürte den kleinen Schauder, der ihren Körper durchfuhr, und ohne zu überlegen, nahm er ihre Hand. Er zuckte unwillkürlich zusammen, als sie sie drückte, und plötzlich hörte er in Gedanken den Reverend: »Selig sind die, die glauben, ohne zu sehen.« Und die, die es sehen
Während sich Brianna aufrichtete, um einer Wahrheit zu begegnen, die sie bereits gesehen hatte, entspannten sich Claires rigide Konturen auf dem Sofa. Ihre bleichen Lippen verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, und eine Miene durchdringenden Friedens glättete ihr erschöpftes weißes Gesicht und ließ sich leuchtend in den goldenen Augen nieder.
»Es ist wahr«, sagte sie. Ein Hauch von Farbe kehrte in ihre blassen Wangen zurück. »Würde dich deine Mutter anlügen?« Und sie schloss die Augen wieder.
Roger streckte die Hand aus, um den elektrischen Heizkörper auszuschalten. Der Abend war kalt, doch er konnte nicht länger im Studierzimmer bleiben, wo er vorübergehend Zuflucht gefunden hatte. Er fühlte sich zwar immer noch benommen, doch er konnte es nicht länger hinauszögern. Die Entscheidung musste fallen.
Der Morgen hatte schon gegraut, als die Polizei und der Arzt letzte Nacht endlich fertig waren mit ihren Formularen und Zeugenaussagen, ihrem Pulszählen und den Erklärungsversuchen. »Selig sind die, die glauben, ohne zu sehen«, dachte er noch einmal aus tiefstem Herzen. Vor allem in diesem Fall.
Schließlich waren sie wieder abgezogen mit ihren Formularen, ihren Dienstmarken und ihrem Blaulicht, um die Entfernung von Greg Edgars’ Leiche aus dem steinernen Ring zu überwachen und einen Haftbefehl für seine Frau auszustellen, die ihren Mann in den Tod gelockt und dann vom Tatort geflüchtet war. Um es vorsichtig auszudrücken, dachte Roger wie im Nebel.
Körperlich und geistig erschöpft, hatte Roger die Randalls dem Arzt und Fiona anvertraut und war ins Bett gegangen. Er hatte sich gar nicht erst ausgezogen oder die Bettdecke zurückgeschlagen, sondern sich einfach nur in das willkommene Vergessen fallen gelassen. Gegen Sonnenuntergang von nagendem Hunger geweckt, war er nach unten gestolpert, wo er seine Gäste ähnlich still, wenn auch nicht so ungekämmt dabei angetroffen hatte, wie sie mit Fiona das Abendessen zubereiteten.
Es war eine schweigsame Mahlzeit geworden. Nicht, dass Anspannung herrschte; es war, als liefe die Kommunikation unsichtbar zwischen den Personen am Tisch hin und her. Brianna saß dicht bei ihrer Mutter, und hin und wieder berührte sie sie, während sie etwas zu essen weiterreichte, wie um sich zu vergewissern, dass sie tatsächlich da war. Hin und wieder hatte sie Roger flüchtig unter ihren Wimpern hinweg angesehen, aber nicht mit ihm gesprochen.