»Das ist möglich, aber es ist nicht so«, versicherte Roger ihnen. »Kommt doch mit uns zum Haus, aye? Wir wollen Jemmy holen. Ich bin mir sicher, dass Ute euch am Feuer schlafen lässt.«
Die Beardsleys wechselten einen unergründlichen Blick miteinander. Sie sahen beinahe gleich aus – klein und schmächtig mit dichtem, schwarzem Haar, unterscheidbar allein durch Kezzies Taubheit und die runde Narbe an Jos Daumen –, und es brachte den Betrachter ein wenig aus der Fassung, ihre beiden feinknochigen Gesichter mit exakt derselben Miene zu sehen.
Welche Information sie auch immer mit diesem Blick untereinander ausgetauscht hatten, die nötige Beratung war damit auf jeden Fall abgeschlossen, denn Kezzie nickte kaum merklich und überließ seinem Bruder das Wort.
»Ah, nein, Sir«, sagte Josiah höflich. »Ich glaube, wir bleiben lieber.« Und ohne ein weiteres Wort wandten sich die beiden ab und verschwanden in der Dunkelheit, wo ihre knirschenden Schritte Laub und Steine verstreuten.
»Jo! Wartet!«, rief Brianna ihnen nach, denn ihre Hand hatte ganz unten in ihrer Tasche noch etwas anderes gefunden.
»Aye, Ma’am?« Schon war Josiah wieder da und tauchte mit enervierender Plötzlichkeit neben ihr auf. Sein Zwillingsbruder beherrschte die Kunst des Anschleichens nicht, doch Josiah schon.
»Oh! Ich meine, oh, da bist du ja.« Sie holte tief Luft, um ihren Herzschlag zu beruhigen, und gab ihm die Pfeife, die sie für Germain geschnitzt hatte. »Hier. Wenn ihr Wache stehen wollt, könnte euch das helfen. Damit könnt ihr um Hilfe rufen, falls wirklich jemand kommt.«
Jo Beardsley hatte ganz offenbar noch nie im Leben eine Pfeife gesehen, wollte es aber nicht zugeben. Er drehte den kleinen Gegenstand in der Hand und gab sich Mühe, ihn nicht anzustarren.
Roger nahm ihm die Pfeife ab und blies einen kräftigen Ton, der die Nacht erschütterte. Aus dem Schlaf aufgescheuchte Vögel schossen ringsum kreischend aus den Bäumen, gefolgt von Kezzie Beardsley, der die Augen vor Erstaunen weit aufgerissen hatte.
»Puste an diesem Ende hinein«, sagte Roger und tippte mit dem Finger auf das richtige Ende der Pfeife, bevor er sie zurückgab. »Du musst die Lippen ein bisschen zusammendrücken.«
»Vielen Dank, Sir«, murmelte Jo. Seine übliche ungerührte Fassade war gemeinsam mit der Stille aus dem Lot geraten, und er nahm die Pfeife mit großen Augen entgegen wie ein Junge am Weihnachtsmorgen. Er wandte sich sofort seinem Zwillingsbruder zu, um ihm seine Errungenschaft zu zeigen. Brianna dämmerte ganz plötzlich, dass wohl keiner der Jungen je einen Weihnachtsmorgen erlebt – oder jemals sonst ein Geschenk erhalten hatte.
»Ich mache dir auch eine«, sagte sie zu Kezzie. »Dann könnt ihr euch gegenseitig Signale geben. Falls ihr Briganten seht«, fügte sie lächelnd hinzu.
»O ja, Ma’am. Das tun wir, ganz bestimmt!«, versicherte er ihr und sah sie dabei nur flüchtig an, so sehr brannte er darauf, die Pfeife zu untersuchen, die sein Bruder ihm in die Hand gegeben hatte.
»Blast sie dreimal, wenn ihr Hilfe braucht«, rief Roger ihnen nach und nahm Briannas Arm.
»Aye, Sir!«, kam es aus der Dunkelheit zurück, gefolgt von einem schwachen »Danke, Ma’am!« – dem wiederum eine Salve puffender Keuchtöne und atemloser Rasselgeräusche folgte, die dann und wann von einem kurzen, erfolgreichen Tuten unterbrochen wurde.
»Wie ich sehe, hat Lizzie ihnen ein paar Manieren beigebracht«, sagte Roger, »und nicht nur das Abc. Aber glaubst du, dass sie einmal wirklich zivilisiert sein werden?«
»Nein«, sagte sie mit einer Spur von Bedauern.
»Ehrlich?« Sie konnte sein Gesicht im Dunkeln nicht sehen, hörte aber die Überraschung in seiner Stimme. »Eigentlich habe ich die Frage gar nicht ernst gemeint. Glaubst du es tatsächlich nicht?«
»Nein – und wenn man bedenkt, wie sie aufgewachsen sind, ist es doch auch kein Wunder. Hast du gesehen, wie sie sich über die Pfeife gefreut haben? Ihnen hat noch nie jemand ein Geschenk gemacht oder ein Spielzeug gegeben.«
»Wohl nicht. Und du meinst, so etwas lässt Jungen zivilisiert werden? Wenn ja, dann wird unser Jem wohl Philosoph oder Künstler oder so etwas werden. Mrs. Bug verwöhnt ihn ja von morgens bis abends.«
»Ah, als ob du das nicht ebenfalls tust«, sagte sie geduldig. »Und Pa und Lizzie und Mama und wer immer sonst noch in Sichtweite ist.«
»Oh, nun gut«, sagte Roger, der sich durch diese Anschuldigung nicht in Verlegenheit bringen ließ. »Warte nur, bis er Konkurrenz bekommt. Germain ist nicht in Gefahr, verwöhnt zu werden, oder?« Germain, Fergus’ und Marsalis Ältester, wurde von zwei kleinen Schwestern auf Trab gehalten, die allgemein als die Höllenkätzchen bekannt waren und ihren Bruder mit ihrem Nörgeln und Hänseln auf Schritt und Tritt verfolgten.