Kaum ist der Tag angebrochen, da wird Zimmer 119 heute morgen vom Unglück heimgesucht. Seit einer halben Stunde ertönt der Alarm des Apparats, der meine Ernährung reguliert, ins Leere hinein. Ich kenne nichts Dümmeres und Abscheulicheres als dieses schrille »piep, piep«, das am Gehirn nagt. Obendrein ist durch meine Transpiration das Pflaster abgegangen, das mein rechtes Augenlid verschließt, und die verklebten Wimpern kitzeln schmerzhaft meine Pupille. Und um das Ganze zu krönen, ist auch noch mein Blasenkatheter herausgerutscht. Ich liege in einer Überschwemmung. Während ich auf Hilfe warte, summe ich im stillen einen alten Schlager von Henri Salvador: »Ach komm, Baby, das alles ist doch nicht so schlimm.« Jetzt kommt übrigens die Schwester. Mechanisch macht sie den Fernsehapparat an. Es läuft Werbung. Ein
Die Spur der Schlange
Wenn mich jemand zum Spaß fragt, ob ich vorhabe, eine Wallfahrt nach Lourdes zu machen, antworte ich, die habe ich schon gemacht. Es war Ende der siebziger Jahre.
Joséphine und ich hatten eine hinreichend komplizierte Beziehung, um auszuprobieren, ob wir gemeinsam eine Vergnügungsreise hinbrächten, einen dieser Ausflüge in Etappen, die ebenso viele Keime zur Zwietracht enthalten, wie ein Tag Minuten hat. Um morgens loszufahren, ohne zu wissen, wo man abends übernachten wird, und ohne eine Ahnung, wie man dieses unbekannte Ziel erreicht, muß man entweder sehr diplomatisch oder abgrundtief unaufrichtig sein.
Joséphine gehörte wie ich zur zweiten Kategorie, und eine Woche lang war ihr blaßblaues altes Cabrio der mobile Schauplatz permanenter Szenen einer Ehe. Von Ax-les-Thermes, wo ich gerade eine Wandertour beendet hatte - ein unpassender Einschub in ein Leben, das sich allem, außer dem Sport widmete -, nach Chambre d'Amour, einem kleinen Strand an der baskischen Küste, wo Joséphines Onkel eine Villa besaß, machten wir eine stürmische und wunderbare Reise durch die Pyrenäen und ließen ein Kielwasser von »Das-hab-ich-nie-gesagt« hinter uns.
Der Hauptgrund für diese herzliche Unstimmigkeit war ein dickes Buch von sechs- oder siebenhundert Seiten mit einem schwarz-roten Einband, von dem sich ein reißerischer Titel abhob.
Allerdings war der Berg an jenem Tag auch in dichten Nebel gehüllt, weshalb sich die Aussicht und überhaupt der Reiz des Ausflugs in Grenzen hielten. Nichtsdestoweniger ließ Joséphine mich da sitzen und ging zwei Stunden in den Wolken schmollen. Wollte sie deshalb unbedingt über Lourdes fahren, um den Bann von mir zu nehmen? Da ich noch nie in dieser Welthauptstadt des Wunders gewesen war, stimmte ich ohne Murren zu. Jedenfalls verschmolz Charles Sobraj in meinem von der Lektüre fiebrigen Geist mit Bernadette Soubirous,[4]
und die Wasser des Adour vermischten sich mit denen des Ganges.