Er blickte zu ihr hinüber und sah, daß sie sich aufgerichtet hatte und die auf der Gegenfahrbahn vorbeiflitzenden Wagen betrachtete. Der Wagen direkt vor ihnen hatte einen Weihnachtsbaum auf dem Dach. Die grünen Augen des Mädchens waren jetzt weit aufgerissen, und einen Augenblick versank er in ihnen. Für eine Sekunde überfiel ihn ein Gefühl vollkommenen Mitempfindens, dessen die Menschen nur manchmal, in gnädigen Momenten, fähig sind. Er stellte sich vor, was sie bei all diesen Autos empfinden mußte, die ein warmes Zuhause als Ziel hatten, die irgendwo hinfuhren, wo es Geschäfte zu erledigen oder Freunde zu be-grüßen gab oder wo eine ganz normale Familie auf sie wartete. Er verstand ihre Gleichgültigkeit gegenüber all diesen Fremden. Und einen kurzen, glasklaren Augenblick lang begriff er, was Thomas Carlyle mit der großen, toten Lokomotive Welt gemeint hatte, die weiter und weiter stampfte.
»Sind wir bald da?« fragte sie.
»In fünfzehn Minuten.«
»Hören Sie, wenn ich unhöflich zu Ihnen war …«
»Nein, ich war sehr unhöflich zu Ihnen. Wissen Sie, icfr habe heute abend nichts Bestimmtes vor. Ich fahr’ Sie rüber nach Landy.«
»Nein …«
»Oder ich stecke Sie für die Nacht ins Holiday Inn. Ohne Gegenleistung. Einfach nur fröhliche Weihnachten und so.«
»Leben Sie wirklich von Ihrer Frau getrennt?«
»Ja.«
»Und erst so kurz?«
»Ja.«
»Hat sie die Kinder?«
»Wir haben keine Kinder.« Sie fuhren jetzt auf die Mautstelle zu. Zwei grüne Ampellichter blinkten gleichgültig im Zwielicht.
»Dann nehmen Sie mich mit nach Hause.«
»Sie müssen nicht. Ich meine, Sie müssen nicht …«
»Es war’ mir heute ganz recht, mit jemandem zusammenzusein«, unterbrach sie ihn. »Ich mag nicht gern bei Nacht trampen. Es ist irgendwie unheimlich.«
Er hielt neben dem Schalter und drehte das Fenster herunter. Kalte Luft strömte in den Wagen. Er reichte dem Kassierer seine Karte und einen Dollar neunzig und fuhr langsam weiter. Vor ihnen stand ein großes, reflektierendes Schild:
WIR DANKEN IHNEN FÜRS SICHERE FAHREN!
»In Ordnung«, sagte er vorsichtig. Er wußte, daß es vermutlich nicht richtig war, sie immer wieder zu beruhigen - es würde wahrscheinlich das Gegenteil bewirken -, aber er konnte nicht anders. »Sehen Sie, es ist nur, daß ich mich zu Hause recht einsam fühle. Wir können zusammen essen und uns dann mit Popcorn vor den Fernseher setzen. Sie schlafen oben im Schlafzimmer, und ich werde …«
Sie lachte leise, und er spähte vorsichtig zu ihr hinüber, während er die große Schleife der Ausfahrt hinunterfuhr.
Aber er konnte sie im Dämmerlicht kaum mehr erkennen.
Sie war nur eine dunkle Gestalt. Sie hätte auch ein Traum sein können. Der Gedanke gefiel ihm gar nicht.
»Hören Sie, ich sag’s ihnen lieber gleich«, begann sie. »Erinnern Sie sich an den betrunkenen Kerl, von dem ich erzählt habe? Ich hab’ mit ihm die Nacht zusammen verbracht. Er hat mich bis Stilson gebracht. Das war sein Preis.«
Er hielt vor der roten Ampel am Fuß der Schleife.
»Meine Zimmernachbarin hat mich gewarnt, daß es so kommen würde, aber ich wollte ihr nicht glauben. Ich würde mich niemals quer durchs Land ficken, ich nicht.« Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, aber er konnte ihren Gesichtsausdruck nicht erkennen. »Es ist nicht, so, daß man von den Leuten dazu
»Es interessiert mich nicht, mit wem Sie geschlafen haben«, sagte er und fädelte sich in den Verkehr ein. Er war wieder automatisch auf die Grand Street abgebogen, um zur Baustelle zu fahren.
»Dieser Geschäftsmann«, erzählte sie weiter. »Er ist vierzehn Jahre lang verheiratet gewesen. Das hat er immer wieder gesagt, während er auf mir drauflag. Vierzehn Jahre, Sharon, hat er gesagt, vierzehn Jahre, vierzehn Jahre. Er ist schon nach vierzehn Sekunden gekommen.« Sie lachte kurz auf. Es klang traurig und reuevoll.
»Ist das Ihr Name?« fragte er. »Sharon?«
»Nein. Ich glaube, so hieß seine Frau.«
Er hielt am Straßenrand.
»Was machen Sie da?« fragte sie, wieder mißtrauisch geworden.
»Nichts besonderes«, antwortete er. »Es ist nur ein Teil meines Heimwegs. Steigen Sie aus, wenn Sie wollen. Ich werde Ihnen etwas zeigen.«