»Dunja, Liebste! Wenn ich Schuld habe, so vergib mir (obwohl man mir gar nicht vergeben kann, wenn ich Schuld habe)! Lebe wohl! Wir wollen nicht streiten! Es ist Zeit, es ist höchste Zeit. Folge mir nicht, ich flehe dich an, ich muß noch irgendwo hingehen ... Geh jetzt gleich zur Mutter und setze dich neben sie. Ich flehe dich an! Das ist meine letzte große Bitte an dich. Verlaß sie nicht in dieser ganzen Zeit; ich habe sie in einer Unruhe zurückgelassen, die sie kaum überstehen wird: Sie wird entweder sterben oder den Verstand verlieren. Bleib bei ihr! Rasumichin wird mit euch sein; ich habe mit ihm schon gesprochen ... Weine nicht um mich: Ich werde mich bemühen, mutig und ehrlich zu sein, mein ganzes Leben, obgleich ich ein Mörder bin. Vielleicht wirst du einmal meinen Namen hören. Ich werde euch keine Schande antun, du wirst es sehen; ich werde noch beweisen ... jetzt vorläufig auf Wiedersehen«, schloß er eilig, als er in den Augen Dunjas bei seinen letzten Worten und Versprechungen wieder einen sonderbaren Ausdruck bemerkt hatte. »Was weinst du so? Weine nicht, weine nicht, wir trennen uns doch nicht für immer! ... Ach ja! Wart, ich hab es vergessen! ...«
Er trat an den Tisch, nahm ein dickes, verstaubtes Buch, schlug es auf und nahm ein zwischen den Seiten verwahrtes kleines Aquarellbild auf Elfenbein heraus. Es war das Bild der Tochter seiner Wirtin, seiner früheren Braut, die am Fieber gestorben war, desselben merkwürdigen jungen Mädchens, das ins Kloster gehen wollte. Eine Minute lang blickte er dieses ausdrucksvolle und krankhafte Gesichtchen an, küßte das Bild und gab es Dunjetschka.
»Mit ihr habe ich viel davon gesprochen, mit ihr allein«, sagte er nachdenklich. »Ihrem Herzen habe ich vieles davon mitgeteilt, was später in einer so häßlichen Weise in Erfüllung gegangen ist. Sei ruhig,« wandte er sich an Dunja, »sie war mit mir nicht einverstanden, ebenso wie du, und ich bin froh, daß sie nicht mehr ist. Die Hauptsache, die Hauptsache ist, daß jetzt alles ganz neu beginnt, daß alles entzweibricht«, rief er plötzlich aus, wieder in seinen Gram verfallend, »alles, alles; bin ich aber dazu vorbereitet? Will ich es selbst? ... Man sagt, es sei zu meiner Prüfung notwendig! Doch wozu, wozu alle diese unsinnigen Prüfungen? Was brauche ich sie? Werde ich es denn dann, erdrückt von Qualen und Idiotie, in greisenhafter Ohnmacht nach zwanzigjähriger Zwangsarbeit besser empfinden, als ich es jetzt empfinde, und wozu soll ich dann noch leben? Oh, ich wußte es, daß ich ein Schuft bin, als ich heute in der Morgendämmerung an der Newa stand!« – – –
Beide verließen schließlich das Haus. Es war Dunja schwer, aber sie liebte ihn so! Sie trennte sich von ihm; als sie aber etwa fünfzig Schritte gegangen war, wandte sie sich um, um ihn noch einmal anzuschauen. Sie konnte ihn noch sehen. Aber an der Ecke wandte er sich auch um, und ihre Blicke trafen sich zum letztenmal; als er merkte, daß sie ihn ansah, winkte er ungeduldig und sogar ärgerlich mit der Hand, daß sie weitergehe, und bog jäh um die Ecke.
– Ich bin böse, ich sehe es – dachte er, als er sich nach einer Minute seiner ärgerlichen Geste gegen Dunja schämte. – Aber warum lieben sie mich so, wenn ich es nicht verdiene! O wär ich doch allein und niemand liebte mich, und hätte ich auch selbst nie jemand geliebt! Dann wäre dies alles nicht geschehen! Ich möchte aber gern wissen, ob meine Seele in diesen kommenden fünfzehn oder zwanzig Jahren sich so demütigen wird, daß ich vor den Menschen voller Andacht jammern und mich bei jedem Wort Mörder nennen werde? Ja, so wird es sein! Darum verschicken sie mich auch nach Sibirien, das ist es, was sie brauchen ... Da laufen sie in den Straßen herum, und jeder von ihnen ist ein Schuft und ein Mörder, schon seiner Natur nach; und noch schlimmer als das – ein Idiot! Wenn man mir aber die Zwangsarbeit erläßt, so werden sie vor edler Empörung rasen! Oh, wie ich sie alle hasse! –
Er vertiefte sich in den Gedanken: – Durch welchen Prozeß kann es so kommen, daß ich mich zuletzt ganz ohne zu klügeln vor allen demütige, mich mit voller Überzeugung demütige? Warum auch nicht? Es muß natürlich so kommen. Werden mir denn die zwanzig Jahre ununterbrochenen Druckes nicht endgültig den Garaus machen? Steter Tropfen höhlt den Stein. Und wozu, wozu dann noch leben, wozu gehe ich jetzt hin, wo ich selbst weiß, daß alles sich genau so wie nach Noten abspielen wird und nicht anders! –
Diese Frage legte er sich seit gestern abend vielleicht schon zum hundertstenmal vor, aber er ging dennoch hin.
VIII