»Das ist also ein Symbol dessen, daß ich ein Kreuz auf mich nehme, he-he! Als ob ich bisher wenig gelitten hätte! Ein Kreuz aus Zypressenholz, also wie es das einfache Volk trägt; das aus Messing, das Kreuz Lisawetas nimmst du dir; zeig es mir! So hat sie es ... in jenem Augenblick umgehabt? Ich kenne zwei ähnliche Kreuze, ein silbernes und ein kleines Heiligenbild. Ich habe sie damals der Alten auf die Brust geworfen. Diese Kreuze sollte ich mir jetzt umhängen, wirklich ... Übrigens schwatze ich immer Unsinn; so vergesse ich die Hauptsache, ich bin so zerstreut! ... Siehst du, Ssonja, ich bin eigentlich gekommen, um es dir vorher zu sagen, damit du es weißt ... Nun, das ist alles ... Ich bin ja nur deswegen hergekommen. (Hm! Ich hatte übrigens geglaubt, daß ich mehr sagen würde.) Du wolltest doch selbst, daß ich hingehe; nun werde ich im Gefängnis sitzen, und dein Wunsch wird in Erfüllung gehen; was weinst du denn? Auch du weinst? Hör auf, genug; ach, wie schwer ist mir das alles!«
Aber in ihm regte sich Mitgefühl; sein Herz krampfte sich bei ihrem Anblick zusammen. – Was hat sie bloß? dachte er. – Was bin ich ihr? Warum weint sie, warum verabschiedet sie sich von mir wie meine Mutter oder wie Dunja? Sie wird meine Wärterin sein! –
»Bekreuzige dich, bete wenigstens einmal!« bat Ssonja mit zitternder, scheuer Stimme.
»Oh, gerne, soviel du willst! Und mit reinem Herzen, Ssonja, mit reinem Herzen ...«
Er wollte ihr übrigens etwas ganz anderes sagen.
Er bekreuzigte sich einige Male, Ssonja nahm ihr Tuch und warf es sich über den Kopf. Es war ein grünes Drap-de-dames-Tuch, wahrscheinlich dasselbe, von dem Marmeladow gesprochen hatte, das »Familientuch«. Raskolnikow kam sogar dieser Gedanke, aber er fragte nicht. Er begann tatsächlich selbst zu fühlen, daß er furchtbar zerstreut und voll häßlicher Unruhe war. Er erschrak darüber. Er war plötzlich bestürzt, daß Ssonja mit ihm gehen wolle.
»Was fällt dir ein? Wo willst du hin? Bleibe, bleibe! Ich gehe allein!« rief er in kleinmütigem Zorn und ging beinahe erbost zur Tür. »Wozu dieses ganze Gefolge!« murmelte er hinaustretend.
Ssonja blieb allein mitten im Zimmer. Er hatte von ihr nicht einmal Abschied genommen, er hatte sie schon vergessen; ein stechender Zweifel empörte sich plötzlich in seiner Seele:
– Ist es auch so richtig, ist es richtig? – dachte er wieder, als er die Treppe hinunterging. – Kann ich denn nicht mehr stehen bleiben und alles wieder gutmachen ... und nicht hingehen? –
Er ging aber doch hin. Plötzlich fühlte er endgültig, daß es keinen Sinn habe, Fragen an sich zu stellen. Als er schon auf der Straße war, erinnerte er sich, daß er sich von Ssonja nicht verabschiedet hatte, daß sie mitten im Zimmer in ihrem grünen Tuche geblieben war und es nicht wagte, nachdem er sie angeschrien hatte, sich zu rühren. Im gleichen Augenblick durchzuckte ihn ein Gedanke, der gleichsam nur darauf gewartet hatte, um ihn völlig zu verwirren.
– Nun, warum, warum bin ich jetzt bei ihr gewesen? Ich sagte ihr: in einer wichtigen Angelegenheit; was war das für eine wichtige Angelegenheit? Ich hatte ihr doch nichts zu sagen! Um ihr zu sagen, daß ich hingehe? Was ist denn dabei? War es denn notwendig? Liebe ich sie etwa? Doch nein, nein! Ich habe sie doch soeben wie einen Hund von mir gestoßen. Brauchte ich vielleicht ihr Kreuz? Oh, wie tief bin ich gesunken! Ihre Tränen brauchte ich, ich mußte ihren Schreck sehen, ich mußte sehen, wie ihr Herz schmerzt und sich quält! Ich mußte mich an irgendetwas festklammern, verweilen, einen Menschen sehen! Und ich wagte noch, so auf mich zu hoffen, so von mir zu denken, ich elender Bettler, ich Schuft, Schuft! –
Er ging am Kanal entlang und hatte nicht mehr weit zu gehen. Aber bei der Brücke blieb er stehen, schlug plötzlich den Weg über die Brücke ein und ging nach dem Heumarkt.