»... Schwach war ich in diesem Augenblick, aber ... aber ich glaube, die Krankheit ist schon vorüber. Ich wußte ja, daß sie vergehen wird, als ich vorhin von zu Hause wegging. Übrigens: das Haus Potschinkow ist ja nur zwei Schritte von hier ... soll er die Wette gewinnen! ... Soll er das Vergnügen haben, ich gönne es ihm! ... Kraft, ich brauche Kraft: ohne Kraft kann ich nichts erreichen; die Kraft kann man sich aber nur durch Kraft erwerben, das ist es, was sie nicht wissen«, fügte er stolz und selbstbewußt hinzu und ging, mühevoll die Beine bewegend, von der Brücke. Sein Stolz und sein Selbstvertrauen wuchsen von Minute zu Minute; schon in der nächsten Minute war er ein anderer Mensch als in der vorhergehenden. Was hatte er aber so Außergewöhnliches erlebt, das ihn so verändert hatte? Das wußte er auch selbst nicht; wie einem Ertrinkenden, der nach einem Strohhalm greift, kam es ihm plötzlich vor, daß er »noch leben könne, daß es noch ein Leben gäbe, daß sein Leben nicht zugleich mit der alten Wucherin gestorben sei«. Vielleicht war diese Schlußfolgerung etwas voreilig, aber er dachte nicht daran.
»Ich bat sie aber, den Knecht Gottes Rodion im Gebete zu erwähnen«, ging es ihm plötzlich durch den Kopf. »Nun, dies für jeden Fall!« fügte er hinzu und mußte schon selbst über diesen kindlichen Einfall lachen. Er war in einer ausgezeichneten Laune.
Er fand Rasumichin ohne jede Mühe; im Hause Potschinkows war der neue Mieter schon bekannt, und der Hausknecht zeigte ihm sofort den Weg. Schon auf der halben Treppe konnte man den Lärm und die lebhaften Gespräche einer großen Versammlung hören. Die Tür zur Treppe stand weit offen; man hörte Schreie und Streit. Rasumichins Zimmer war recht groß, die Versammlung bestand aber aus etwa fünfzehn Menschen. Raskolnikow blieb im Flur stehen. Hier, hinter einem Bretterverschlag machten sich zwei Mägde der Wirtsleute mit zwei großen Samowars zu schaffen; Flaschen, Teller und Platten mit Pasteten und Imbiß waren aus der Küche der Wirtsleute hergeschafft. Raskolnikow ließ Rasumichin zu sich herausrufen. Jener kam entzückt herbeigelaufen. Man konnte ihm auf den ersten Blick ansehen, daß er ungewöhnlich viel getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich nie richtig betrinken konnte, war es ihm diesmal doch anzumerken.
»Hör,« sagte ihm Raskolnikow eilig, »ich komme nur, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast und daß wirklich kein Mensch weiß, was mit ihm alles geschehen kann. Zu dir hereinkommen kann ich aber nicht; ich bin so schwach, daß ich gleich umfalle. Darum: guten Tag und leb wohl! Komm du aber morgen zu mir ...«
»Weißt du was? Ich bringe dich nach Hause! Wenn du schon selbst sagst, daß du schwach bist, so ...«
»Und die Gäste? Wer ist der mit dem Lockenkopf, der eben herausgeschaut hat?«
»Der? Weiß der Teufel, wer es ist! Wahrscheinlich ein Bekannter des Onkels, vielleicht ist er aber auch ungebeten hergekommen ... Bei den Gästen lasse ich den Onkel zurück: er ist ein Prachtmensch; schade nur, daß du ihn jetzt nicht kennen lernen kannst. Übrigens – hol sie alle der Teufel! Sie kümmern sich jetzt nicht um mich, und auch ich muß an die frische Luft; denn du kommst mir sehr gelegen, Bruder! Noch zwei Minuten, und ich hätte mich mit ihnen geprügelt, bei Gott! Was die für einen Unsinn zusammenschwatzen ... Du kannst dir gar nicht vorstellen, was so ein Mensch alles zusammenreden kann! Warum sollst du es dir auch nicht vorstellen können? Schwatzen denn wir wenig? Sollen sie nur schwatzen, dafür werden sie später keinen Unsinn reden ... Bleib eine Weile hier, ich bringe gleich den Sossimow her.«
Sossimow fiel mit Gier über Raskolnikow her; es war ihm eine eigentümliche Neugierde anzusehen; sein Gesicht heiterte sich bald auf.
»Sofort schlafen gehen«, sagte er, nachdem er den Patienten, so gut es ging, untersucht hatte. »Und zur Nacht nehmen Sie ein Mittelchen! Werden Sie es einnehmen? Ich habe es schon vorhin für Sie vorbereitet ... es ist ein Pülverchen.«
»Meinetwegen auch zwei«, antwortete Raskolnikow.
Das Pulver wurde sofort eingenommen.
»Es ist sehr gut, daß du ihn selbst begleitest«, sagte Sossimow zu Rasumichin. »Wie es morgen sein wird, werden wir erst sehen, aber heute ist es gar nicht schlecht: eine bedeutende Veränderung gegen früher. Man lernt nie aus ...«