»Weißt du, was mir eben Sossimow zugeflüstert hat, als wir weggingen?« platzte Rasumichin heraus, als sie auf die Straße traten. »Ich werde es dir aber nicht so direkt sagen, Bruder, denn sie sind alle Dummköpfe. Sossimow sagte mir, ich solle den ganzen Weg mit dir schwatzen und auch dich zum Schwatzen animieren und dann alles ihm berichten, denn er hat die Idee ... daß du verrückt bist, oder nahe daran bist, es zu werden. Denk es dir nur! Erstens bist du dreimal so klug als er, zweitens, wenn du nicht verrückt bist, pfeifst du drauf, daß er solchen Unsinn im Kopfe hat, und drittens ist jetzt dieses Stück Fleisch, seiner engeren Spezialität nach Chirurg, auf Geisteskrankheiten versessen, und was dich betrifft, so hat ihn sein heutiges Gespräch mit Samjotow endgültig darauf gebracht.«
»Hat dir Samjotow alles erzählt?«
»Alles, und es war sehr gut, daß er es getan hat. Jetzt habe ich es durch und durch begriffen, und auch Sossimow hat es begriffen ... Na ja, mit einem Worte, Rodja ... die Sache ist die ... ich bin jetzt ein wenig betrunken ... Das ... macht aber nichts ... die Sache ist die, daß dieser Gedanke ... verstehst du? ... ihnen wirklich gekommen war ... verstehst du? Das heißt, niemand wagte es laut zu sagen, denn es ist ein haarsträubender Unsinn, und besonders, als man diesen Anstreicher festgenommen hatte, fiel das alles zusammen und erlosch für immer. Warum sind sie aber solche Dummköpfe? Den Samjotow hatte ich damals ein wenig verprügelt, doch das bleibt unter uns, Bruder; zeige ihm nur nicht, daß du davon etwas weißt; ich habe bemerkt, daß er empfindlich ist; es passierte bei der Lawisa – doch heute, heute wurde alles klar. Hauptsächlich dieser Ilja Petrowitsch! Er nutzte damals deinen Ohnmachtsanfall im Polizeibureau aus, aber später schämte er sich dessen selbst; ich weiß es ja ...«
Raskolnikow hörte ihm mit Gier zu. Rasumichin fing in seinem Rausche an, alles auszuplaudern.
»Ich war damals darum ohnmächtig geworden, weil es schwül war und nach Ölfarbe roch«, sagte Raskolnikow.
»Du erklärst es mir noch! Es war aber nicht die Farbe allein: die Entzündung bereitete sich doch einen ganzen Monat lang vor; dazu haben wir den Sossimow! Wie dieser dumme Junge jetzt niedergeschlagen ist, das kannst du dir gar nicht vorstellen! Ich bin nicht den kleinen Finger dieses Menschen wert!« sagt er. »Das heißt, deines Fingers. Manchmal hat er auch gute Gefühle, Bruder. Doch die Lektion, die Lektion, die du ihm heute im ›Kristallpalast‹ erteilt hast, ist der Gipfel der Vollkommenheit! Du hast ihn doch anfangs so erschreckt, daß er beinahe Krämpfe kriegte! Du hast ihn fast dazu gebracht, daß er an diesen ganzen abscheulichen Unsinn von neuem glaubte, und dann – dann zeigtest du ihm plötzlich die Zunge: ›Da hast du es!‹ Tadellos! Nun ist er erdrückt und vernichtet. Ein Meister bist du, bei Gott! So muß man auch diese Leute behandeln! Schade, daß ich nicht dabei war! So sehnsüchtig hat er dich jetzt erwartet. Auch Porfirij möchte dich kennen lernen ...«
»So ... auch er ... Und warum wollten sie mich für verrückt erklären?«
»Das heißt, nicht für verrückt. Ich habe mich, glaub ich, doch etwas verschnappt ... Es ist ihm, siehst du, vorhin aufgefallen, daß dich nur ein einziger Punkt interessiert; jetzt ist es ihm klar, warum er dich so interessiert: nachdem er alle Umstände kennt ... und wie es dich damals gereizt und sich mit deiner Krankheit verquickt hat ... Ich bin jetzt etwas betrunken, Bruder, aber er hat, hol ihn der Teufel, irgendeine eigene Idee ... Ich sage dir ja: er ist auf Geisteskrankheiten versessen. Pfeif aber darauf ...«
Eine halbe Minute lang schwiegen sie beide.
»Hör mal, Rasumichin,« begann Raskolnikow, »ich will es dir offen sagen; ich war eben bei einer Leiche, ein Beamter ist gestorben ... dort ließ ich mein ganzes Geld zurück ... außerdem hat mich ebenso ein Geschöpf geküßt, das, wenn ich wirklich jemand ermordet hätte ... mit einem Worte, ich sah dort auch noch ein anderes Geschöpf ... mit einer feuerroten Feder ... übrigens rede ich dummes Zeug; ich bin sehr schwach, stütze mich ... gleich kommt die Treppe ...«
»Was ist mit dir? Was ist mit dir?« fragte Rasumichin besorgt.
»Mir schwindelt etwas der Kopf, aber das ist es nicht; die Hauptsache ist, es ist mir so traurig, so traurig! Wie einem Weibe ... wirklich! Schau, was ist das? Schau! Schau!«
»Was ist denn los?«
»Siehst du es denn nicht? Licht in meinem Zimmer, siehst du es? In der Ritze ...«
Sie standen schon vor der letzten Treppe neben der Tür zur Wohnung der Wirtin, und man konnte wirklich von unten sehen, daß in Raskolnikows Kammer Licht brannte.
»Sonderbar! Vielleicht ist es Nastasja«, bemerkte Rasumichin.
»Niemals kommt sie um diese Zeit zu mir ins Zimmer, auch schläft sie schon längst, aber ... es ist mir ganz gleich! Leb wohl!«
»Was hast du? Ich will dich begleiten, wir gehen zusammen hinein!«
»Ich weiß, daß wir zusammen hineingehen, aber ich will dir hier die Hand drücken und mich hier von dir verabschieden! Nun, gib die Hand, leb wohl!«