Doch Shehyn wich dem Angriff aus. Nicht durch einen Satz zur Seite oder eine andere hastige Bewegung. Sie war schnell, aber nicht die Schnelligkeit ihrer Bewegungen war entscheidend, sondern ihre Genauigkeit und Zielstrebigkeit. Bevor Penthe sie berühren konnte, war sie schon weg. Die Spitze von Penthes Schwert hatte sich ihrem Knie auf einen Fingerbreit genähert, und trotzdem war es nicht knapp gewesen. Shehyn hatte sich nur gerade so viel bewegt wie notwendig, nicht mehr.
Diesmal konnte Shehyn einen Gegenangriff ausführen. Sie tat es mit einem »Spatz schlägt Falke« genannten Manöver. Penthe rollte zur Seite ab, berührte kurz das Gras und stieß sich vom Boden ab. Nein, sie sprang nur unter Einsatz der linken Hand förmlich vom Boden auf. Wie eine stählerne Feder schnellte sie durch die Luft, während sie zugleich zweimal mit dem Schwert zuschlug und Shehyn zurücktrieb.
Penthe kämpfte mit Leidenschaft und Inbrunst, Shehyn mit einer ruhigen Beharrlichkeit. Penthe war wie der Sturm, Shehyn wie der Fels. Penthe war ein Tiger, Shehyn ein Vogel, Penthe tanzte und wirbelte, Shehyn vollführte eine Drehung und machte einen einzigen, vollkommenen Schritt.
Wieder schlug Penthe zu, kreiselte und schlug wieder zu, und wieder und wieder …
Und plötzlich hielten beide inne. Penthes Schwertspitze drückte gegen Shehyns weißes Hemd.
Ich atmete vor Schreck hörbar ein, allerdings nur so leise, dass niemand es bemerkte. Erst jetzt merkte ich, dass mein Herz wie verrückt hämmerte. Ich war am ganzen Körper schweißgebadet.
Shehyn senkte ihr Schwert und machte die Gebärden für
Erschrocken wandte ich mich an Vashet. »Übernimmt sie jetzt die Leitung der Schule?«, fragte ich.
Vashet sah mich verwirrt an.
Ich zeigte auf die Wiese vor uns, auf der die beiden Frauen standen und sich unterhielten. »Diese Penthe hat doch Shehyn besiegt …«
Vashet schwieg einen Moment lang verständnislos, dann lachte sie schallend. »Shehyn ist doch schon alt«, sagte sie. »Sie ist eine Großmutter. Man kann nicht erwarten, dass sie immer gegen junge, geschmeidige Kriegerinnen wie Penthe gewinnt, die vor Energie bersten.«
»Ach so«, sagte ich. »Ich dachte nur …«
Wenigstens lachte Vashet mich aus Taktgefühl nicht schon wieder aus. »Shehyn leitet die Schule nicht, weil sie unbesiegbar wäre. Was für eine absurde Vorstellung. Das Chaos würde ausbrechen, wenn die Schule je nach Kampfglück ständig den Leiter wechseln müsste.«
Sie schüttelte den Kopf. »Shehyn leitet die Schule, weil sie eine wunderbare Lehrerin ist und tiefe Einsichten in den Geist des Lethani hat. Außerdem ist sie sehr welterfahren und versteht sich auf die Lösung schwieriger Probleme.« Sie klopfte mir vielsagend mit zwei Fingern auf die Brust.
Dann machte sie eine versöhnliche Geste. »Natürlich ist sie auch eine hervorragende Kriegerin. Wer nicht kämpfen kann, kann auch keine Schule führen. Ihr Ketan hat nicht seinesgleichen. Aber zum Führen braucht man nicht Muskeln, sondern Verstand.«
Ich hob den Blick und sah gerade noch rechtzeitig, dass Shehyn auf uns zukam. An ihrem Ärmel hatte sich während des Kampfes ein Band gelöst, und der Stoff flatterte im Wind wie ein schlagendes Segel. Shehyn hatte ihre gelbe Mütze wieder aufgesetzt und begrüßte uns mit einer förmlichen Handbewegung.
Anschließend wandte sie sich an mich. »Warum wurde ich am Ende getroffen?«, fragte sie.
Ich ließ die letzten Augenblicke des Kampfes noch einmal vor meinem geistigen Auge vorüberziehen und überlegte angestrengt.
Dann versuchte ich, mit einigen komplizierten Gebärden, die ich von Vashet gelernt hatte, Respekt und zugleich Bescheidenheit auszudrücken. »Ihr habt die Ferse ein wenig verdreht aufgesetzt«, sagte ich. »Die linke Ferse.«
Shehyn nickte. »Gut.« Sie machte die Gebärde für
Schwindlig von ihrem Lob, aber auch im Bewusstsein, dass ich beobachtet wurde, verzog ich keine Miene. Shehyn entfernte sich mit Penthe im Schlepptau.
Erst jetzt neigte ich den Kopf zu Vashet. »Die kleine Mütze, die Shehyn trägt, gefällt mir«, sagte ich.
Vashet schüttelte den Kopf und seufzte. »Komm.« Sie stieß mich mit der Schulter an und stand auf. »Wir sollten gehen, bevor du den guten Eindruck verdirbst, den du heute gemacht hast.«
Beim Essen am Abend saß ich an meinem gewohnten Platz am Ende des Tisches, der am weitesten von der Essensausgabe entfernt war. Da die anderen mindestens drei Meter Abstand von mir hielten, setzte ich mich gar nicht erst dorthin, wo sie sitzen wollten.