Gabrielle stand im Schein einer Straßenlaterne da und rieb sich die Arme, um das Kältegefühl darin zu vertreiben. Sie drehte sich um, blickte die Straße in beide Richtungen hinunter, auf der Suche nach irgendeinem Anzeichen für die Gewalt, deren Zeugin sie vor nur wenigen Minuten geworden war.
Nichts.
Aber dann … hörte sie es.
Das Geräusch kam aus einer schmalen Gasse auf ihrer rechten Seite. Gesäumt von einer schulterhohen Betonwand, die den Schall verstärkte, drang aus dem finsteren Weg ein schwaches, tierähnliches Grunzen bis zur Straße. Gabrielle konnte das seltsame Geräusch nicht einordnen. Sie konnte sich dieses ekelhafte Schmatzen, das ihr das Blut in den Adern gefrieren und jede Faser ihres Körpers vor Angst vibrieren ließ, nicht erklären.
Ihre Füße bewegten sich. Nicht weg von der Quelle dieser verstörenden Geräusche, sondern darauf zu. Ihr Mobiltelefon lag wie ein Backstein in ihrer Hand. Sie hielt die Luft an. Ihr war gar nicht bewusst, dass sie das Atmen vergessen hatte, bis sie ein paar Schritte in die Gasse gemacht hatte und ihr Blick auf die Gestalten vor ihr fiel.
Die Schlägertypen in Leder und mit den Sonnenbrillen.
Sie hatten sich auf ihre Hände und Knie niedergelassen, zogen und zerrten an etwas. In dem schwachen Licht, das von der Straße hereindrang, erhaschte Gabrielle einen flüchtigen Blick auf ein zerfetztes Stück Stoff, das in der Nähe einer Blutlache lag. Es war das Trägerhemd des Jeanstyps, zerrissen und fleckig.
Gabrielles Finger, der über der Wahlwiederholungstaste ihres Handys schwebte, senkte sich stumm auf den winzigen Knopf. Am anderen Ende war ein leises Tuten zu hören, und dann unterbrach die Stimme des Diensthabenden dröhnend die Stille der Nacht.
„Sie haben den Notruf gewählt. Worin besteht Ihr Notfall?“
Einer der Schläger hatte die Stimme auch gehört und drehte sich ruckartig zu Gabrielle um. Wilde, hasserfüllte Augen durchbohrten sie wie Dolche und ließen sie wie angewurzelt an Ort und Stelle verharren. Sein Gesicht war blutig, glitschig von geronnenem Blut. Und seine Zähne – sie waren scharf wie die eines Tieres. Nein, eigentlich waren es keine Zähne, sondern Fänge, die er entblößte, als er seinen Mund öffnete und ein schrecklich klingendes Wort in einer fremden Sprache fauchte.
„Sie haben den Notruf gewählt“, sagte der Polizeidienstleiter erneut. „Bitte nennen Sie die Art des Notfalls.“
Gabrielle konnte nicht sprechen. Vor lauter Entsetzen konnte sie kaum atmen. Zwar gelang es ihr, das Handy an ihren Mund zu heben, doch kam kein Laut über ihre Lippen. Die Chance war vertan.
Da ihr dies selbst völlig klar war, tat Gabrielle das einzig Vernünftige in dieser Situation. Mit zitternden Fingern drehte sie das Handy in Richtung der Schläger und drückte den Auslöser der Handy-Kamera. Ein kleiner Blitz erhellte die Gasse.
Nun drehten sich alle zu ihr um und schützten ihre mit Sonnenbrillen bedeckten Augen.
Oh Gott. Vielleicht hatte sie trotzdem noch eine Chance, dieser höllischen Nacht zu entkommen. Gabrielle drückte die Fototaste wieder und wieder und wieder … die ganze Zeit über, während sie aus der Gasse auf die Straße zurückwich. Sie hörte murmelnde Stimmen, geknurrte Flüche, sich bewegende Füße auf dem Asphalt, aber sie wagte es nicht, sich umzudrehen. Nicht einmal, als das scharfe Zischen von Stahl hinter ihr erklang, gefolgt von grässlichen Schreien der Qual und der Wut.
Gabrielle rannte in die Nacht hinaus, getragen von dem Adrenalin und der Angst in ihrem Blut, und hielt nicht an, bis sie ein Taxi erreichte, das auf der Commercial Street stand. Sie sprang hinein und knallte die Tür zu, keuchend und halb verrückt vor Angst.
„Fahren Sie mich zur nächsten Polizeiwache!“
Der Taxifahrer legte einen Arm um die Rückseite der Sitzlehne und drehte sich zu ihr um. Er runzelte die Stirn. „Sind Sie in Ordnung, Lady?“
„Ja“, antwortete sie automatisch. Und dann: „Nein. Ich muss etwas melden, einen …“
Mein Gott.
Gabrielles Augen begegneten dem besorgten Blick des Fahrers. „Bitte beeilen Sie sich. Ich bin soeben Zeugin eines Mordes geworden.“
Vampire.