„Letzten Monat verließ eine dreiköpfige Gruppe junger Leute den Dunklen Hafen, um auf eine Raveparty irgendwo in der Innenstadt zu gehen. Sie kamen nie zurück. Eine Woche später verschwanden zwei andere. Und seither werden aus unseren Reservaten im Großraum Boston jede Nacht Vermisste gemeldet.“ Agent Chase griff in eine Aktentasche, zog einen dicken Aktenordner heraus und warf ihn auf die Mitte des Konferenztisches. Aus der Kartonhülle rutschte etwa ein Dutzend Fotos heraus – die lächelnden Gesichter von jungen Vampirmännern. „Und das sind nur die gemeldeten Vermissten. In der Zeit, die ich hier bei Ihnen bin, haben wir vermutlich schon wieder ein paar Fälle mehr.“
Dante blätterte die Fotografien durch und gab dann den Ordner weiter. Das konnten nicht alles Ausreißer sein. Das Leben in den Dunklen Häfen konnte für junge Männer, die der Welt etwas beweisen wollten, schon sehr langweilig sein, aber es war doch nicht so schlimm, dass sie gruppenweise von dort ausrissen. „Hat man keinen von ihnen gefunden? Sind sie nirgends gesehen worden? So viele Vermisste in so kurzer Zeit – darüber muss doch jemand etwas wissen.“
„Es wurden nur ein paar gefunden.“
Chase zog einen zweiten Ordner aus seiner Aktentasche, bedeutend dünner als der erste. Er entnahm ihm einige Fotos und breitete sie vor sich auf dem Tisch aus. Es waren Autopsiefotos. Drei Zivilvampire der aktuellen Generation, vermutlich keiner von ihnen über fünfunddreißig. Auf jedem Foto starrte ein Paar blickloser Augen in die Kameralinse, die Pupillen zu hungrigen Schlitzen verengt, die ursprüngliche Farbe der Iris im lohgelben Glanz der Blutgier verfärbt.
„Rogues“, zischte Niko.
„Nein“, erwiderte Agent Chase. „Sie starben in einem Anfall von Blutgier, aber sie waren noch nicht mutiert. Sie waren keine Rogues.“
Dante erhob sich von seinem Stuhl und lehnte sich über den Tisch, um sich die Bilder genauer anzusehen. Sofort stach ihm die Kruste von getrocknetem rosafarbenen Schaum um die erschlafften Münder der Toten in den Blick. Die gleiche Art von Speichelrückständen, die ihm heute Nacht an seinem Angreifer vor dem Club aufgefallen war. „Irgendeine Idee, was sie getötet hat?“
Chase nickte. „Eine Überdosis Drogen.“
„Hat einer von euch von einer neuen Clubdroge gehört, die
„Genau“, sagte Agent Chase. „Wird dieses rote Pulver verzehrt oder inhaliert, spürt man bald extremen Durst und abwechselnd fiebrige Hitzewallungen und Schüttelfrost. Dann folgen Krampfanfälle und das wirklich gefährliche Stadium: ein tierähnlicher Zustand mit allen Anzeichen der Blutgier. Starre, elliptische Pupillen, permanent ausgefahrene Fangzähne, unstillbarer Hunger nach Blut. Kann jemand in diesem Zustand seinem Trieb voll nachgeben, wird er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zum Rogue mutieren. Bleibt er weiter Crimson-Konsument“, er zeigte auf die Autopsiefotos, „dann läuft es hierauf hinaus.“
Dante fluchte. Zum einen frustrierte ihn der Gedanke an die Massenhysterie, die bald in den Vampirreservaten ausbrechen würde. Außerdem war ihm klar geworden, dass der Junge im Blutrausch, den er heute Nacht getötet hatte, einer dieser jungen Vampire im Crimsonrausch gewesen war. Er hatte ihn extrem heftig angegriffen, also hatte Dante ihn ausgeschaltet, aber dabei hatte er ein ungutes Gefühl gehabt.
„Diese Droge, Crimson“, sagte Dante. „Irgendeine Idee, woher das Zeug kommt, wer es herstellt oder verbreitet?“
„Wir wissen nicht mehr als das, was ich Ihnen eben referiert habe.“
Dante sah Lucans ernste Miene und verstand, worauf die Sache hinauslaufen würde. „Ach, also das ist unser Job?“
„Die Dunklen Häfen haben uns um Unterstützung gebeten. Es geht darum, vermisste Zivilisten zu identifizieren und wenn möglich jeden Vermissten, den wir bei unseren nächtlichen Streifzügen aufgreifen, zurückzubringen. Davon abgesehen ist es natürlich in unser aller Interesse, dass mit Crimson sowie seinen Herstellern und Dealern Schluss gemacht wird. Ich denke, wir sind uns alle darin einig, dass es das Letzte ist, was wir brauchen – noch mehr Vampire, die zu Rogues mutieren.“
Dante und die anderen nickten.
„Wir wissen die Hilfsbereitschaft des Ordens in dieser Sache sehr zu schätzen. Ich danke Ihnen allen“, sagte Chase und sah dabei nacheinander jeden einzelnen Krieger an. „Aber da ist noch etwas, wenn Sie erlauben.“
Lucan nickte dem Agenten kurz zu und bedeutete ihm, fortzufahren.
Chase räusperte sich. „Ich möchte in dieser Operation eine aktive Rolle übernehmen.“