Gideon, der neben ihm ging, sah ihn mit einem verkniffenen Grinsen an. „Ich glaube, eine ihrer höflicheren Formulierungen war ,Dinosaurier‘ die sich überlebt haben und ihrer Vernichtung zugeführt werden sollten‘.“
Welche Ironie, wenn man bedachte, dass die Bewohner dieser Vampirreservate nur deshalb noch existierten, weil die Krieger nach wie vor mit all ihren Kräften die Rogues bekämpften. Schon in dunkleren Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte, lange bevor er selbst im Italien des achtzehnten Jahrhunderts geboren wurde, war der Orden der einzige Beschützer des Vampirvolks gewesen. Damals wurden sie noch als Helden verehrt. Seitdem hatten die Krieger auf der ganzen Welt Rogues gejagt und ausgelöscht und selbst den kleinsten Aufständen ein Ende gemacht, ehe sie eine Chance bekamen, sich auszuweiten – und jetzt leisteten sich die Dunklen Häfen eine entspannte Haltung arroganter Zuversicht. In der modernen Epoche war die Gruppe der Rogues zahlenmäßig zunächst klein geblieben, aber seit Neuestem wieder im Anwachsen begriffen. Inzwischen hatten die Dunklen Häfen Rechtsvorschriften und bürokratische Verfahren entwickelt, laut denen Rogues wie gewöhnliche Kriminelle behandelt werden sollten, wobei man unsinnigerweise davon ausging, dass sich das Problem durch Haft und Resozialisierungsprogramme lösen ließ.
Die Stammeskrieger wussten es besser. Sie sahen die Gemetzel der Rogues aus nächster Nähe mit an, während sich der Rest der Vampirbevölkerung in seinen Reservaten verkroch und sich dort in falscher Sicherheit wiegte. Dante und seine Mitstreiter im Orden waren die einzige wirkliche Verteidigung des Stammes, und sie zogen es vor, unabhängig zu arbeiten – manche sagten auch, an den machtlosen Gesetzen der Dunklen Häfen vorbei.
„Die bitten uns um Hilfe?“ Dante ballte seine Hände zu Fäusten, er war nicht in der Stimmung, sich mit Vampirpolitik abzugeben oder mit den Idioten, deren Beruf das war. „Ich hoffe, Lucan hat das Treffen einberufen, damit wir denen beweisen, dass wir Wilde sind, indem wir ihren verdammten Boten umlegen.“
Gideon kicherte, als die Glastüren des Labors vor ihnen aufschwangen. „Versuch mal, den guten Agenten Chase nicht gleich zu verscheuchen, bevor er eine Chance hatte, zu erklären, warum er gekommen ist. Kriegst du das hin, D.?“
Gideon betrat den Raum. Dante folgte ihm in die geräumige Kommandozentrale und nickte Lucan und seinen Brüdern respektvoll zu. Dann wandte er sich dem Agenten zu und begegnete ruhig seinem Blick. Der Zivilvampir erhob sich von seinem Stuhl am Konferenztisch und musterte Dantes blutige, zerschlagene Erscheinung mit unverhohlenem Abscheu.
Jetzt war er doch verdammt froh, vor dem Treffen keine Säuberungspause eingelegt zu haben. Um ihn weiter zu brüskieren, ging Dante auf den Agenten zu und hielt ihm seine dreckverschmierte Hand zur Begrüßung hin.
„Sie müssen der Krieger Dante sein“, sagte der Abgesandte des Dunklen Hafens mit tiefer, kultivierter Stimme. Er ergriff Dantes ausgestreckte Hand und schüttelte sie kurz. Der Agent schnüffelte fast unmerklich, seine feinen Nasenflügel zitterten, als sie Dantes Gestank erfassten. „Was für eine Ehre, Sie kennenzulernen. Ich bin Agent Sterling Chase vom Dunklen Hafen Boston.
Dante grunzte nur. Er musste sich zusammennehmen, um nicht die Anrede zu verwenden, die ihm auf der Zunge lag. Stattdessen ließ er sich in den Sessel neben dem Agenten fallen und starrte ihn weiterhin kühl an.
Lucan räusperte sich. Mehr brauchte er als Ältester des Ordens nicht zu tun, um den Vorsitz des Treffens zu übernehmen. „Jetzt, wo wir alle hier sind, lasst uns zur Sache kommen. Agent Chase bringt uns beunruhigende Neuigkeiten vom Dunklen Hafen in Boston. Dort werden seit Kurzem eine Menge junger Vampire vermisst, und er bittet den Orden um Hilfe, sie zu finden und gegebenenfalls zu bergen. Ich habe ihm zugesagt.“
„Ist ja nicht direkt unser Job, Such- und Rettungsteam zu spielen“, meinte Dante, seinen Blick fest auf den Zivilisten geheftet, und rund um den Tisch erhob sich von den anderen Kriegern ein zustimmendes Knurren.
„Das ist wahr“, stimmte Nikolai grinsend ein. Er war in Russland geboren, sein langes sandfarbenes Haar, das ihm ins Gesicht fiel, konnte die winterliche Kälte seiner eisblauen Augen kaum verbergen. „Wir sind mehr als ein Vermisstensuchkommando.“
„Es geht hier um mehr als nur ein paar Vampire, die während der Ausgehsperre herumstreunen und ein paar hinter die Ohren brauchen“, sagte Lucan. Sein grimmiger Ton sorgte sofort für Ruhe im Raum. „Agent Chase wird es uns erklären.“