Als hätte er plötzlich seinen eigenen Willen, flog ihr der Hörer aus der Hand. Als er klappernd neben ihr auf dem Schreibtisch niederfiel, hörte Tess Bens Stimme. „Tess? Hallo … bist du das, Schätzchen? Süße, es ist drei Uhr morgens. Was machst du denn immer noch in der Kli…“
Hinter ihr ein lautes Krachen. Es klang, als hätten unsichtbare Hände das Telefonkabel aus der Wandbuchse gerissen. In der Stille, die nun folgte, ballte sich in ihrem Magen die Angst zu einem harten Knoten zusammen.
„Wir haben da ein ernstes Problem.
O Gott.
Der war jetzt stinksauer,
Im Hinterkopf registrierte Tess, dass der Mann nicht nur bei Bewusstsein war, an sich schon ein Ding der Unmöglichkeit, sondern sich außerdem auf geradezu wundersame Weise von seinen Verletzungen erholt hatte. Unter dem Dreck und der verschmierten Asche, die seine Haut bedeckten, waren die schrecklichen Kratzer und Schnitte verheilt. Seine schwarze Drillichhose war an der Wunde am Bein zerrissen und blutgetränkt, aber er blutete nicht mehr. Genauso verhielt es sich mit der Schusswunde in seinem Unterbauch. Durch den zerfetzten Stoff seines schwarzen T-Shirts hindurch sah Tess nur die glatten Wölbungen seiner Muskeln und makellose, hellbraune Haut.
War das Ganze etwa irgend so ein kranker Halloweenstreich?
Das glaubte sie nicht, und sie wusste, sie tat gut daran, sich diesem Typen gegenüber nach wie vor in Acht zu nehmen.
„Mein Freund weiß, dass ich hier bin. Er ist wahrscheinlich schon unterwegs hierher. Wahrscheinlich hat er sogar schon die Polizei angerufen …“
„Du trägst da ein Mal an der Hand.“
„Wwas?“
Seine Stimme klang anklagend, und jetzt zeigte er auf sie, auf ihre rechte Hand, die zitternd auf ihrem Hals lag.
„Du bist eine Stammesgefährtin. Von heute Nacht an gehörst du mir.“
Seine Mundwinkel kräuselten sich beim Sprechen, als seien seine Worte ganz und gar nicht nach seinem Geschmack. Tess gefielen sie auch nicht unbedingt. Sie zog sich einige Schritte zurück und spürte, wie ihr das Blut aus den Wangen wich. Er ließ sie keine Sekunde aus den Augen.
„Hören Sie, ich weiß nicht, was hier los ist. Ich weiß nicht, was heute Nacht mit Ihnen passiert ist oder wie Sie in meine Klinik gekommen sind. Ich weiß nicht, wie es sein kann, dass Sie jetzt so vor mir stehen können, nachdem ich Ihnen genug Betäubungsmittel verpasst habe, um zehn Männer …“
„Ich bin kein Mensch, Tess. Ich bin … etwas anderes.“
Darüber hätte sie verächtlich gelacht, wenn er nicht so todernst geklungen hätte. So tödlich ruhig.
Er war verrückt.
Klar. Natürlich war er das.
Ein entlaufener, psychotischer, rasender Irrer.
Das war die einzige Erklärung, die sie finden konnte, als sie ihn voller Schrecken anstarrte, wie er Schritt für Schritt näher kam, seine schiere Macht und Größe sie mit dem Rücken an die Wand zwangen.
„Du hast mich gerettet, Tess. Ich habe dir keine Wahl gelassen, aber dein Blut hat mich geheilt.“
Tess schüttelte den Kopf. „Ich habe Sie gar nicht geheilt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob Ihre Verletzungen überhaupt real waren. Vielleicht dachten Sie nur, dass sie es wären …“
„Sie waren real“, sagte er, einen schwachen, rollenden Akzent in seiner tiefen Stimme. „Ohne dein Blut wäre ich krepiert. Aber als ich eben von dir getrunken habe, habe ich etwas mit dir getan. Etwas, das ich nicht rückgängig machen kann.“
„O mein Gott.“ Tess überkam eine Welle von Schwindel, plötzlich war ihr schlecht. „Reden Sie von HIV? Bitte sagen Sie mir nicht, dass Sie AIDS haben …“
Er winkte ab. „Das sind menschliche Krankheiten“, sagte er. „Dagegen bin ich immun. Und du auch, Tess.“
Irgendwie wurde ihr durch diese absurde Aussage nicht besser. „Hören Sie auf, mich so zu nennen. Hören Sie auf, so zu tun, als wüssten Sie irgendetwas über mich …“
„Ich erwarte nicht, dass es dir leicht fällt, das zu verstehen. Ich werde versuchen, es dir so gut zu erklären, wie ich kann. Weißt du, du bist eine Stammesgefährtin, Tess. Das ist für meine Spezies etwas sehr Besonderes.“
„Für Ihre Spezies?“, fragte sie missmutig. Allmählich hatte sie genug von diesem Spiel. „Also schön, ich gebe auf. Was genau ist Ihre Spezies?“
„Ich bin ein Krieger. Ein Angehöriger des Mitternachtsstammes.“
„Ein Krieger. Na gut. Und Stamm, so wie … was für ein Stamm?“
Einen langen Augenblick lang sah er sie nur an, als wollte er seine Antwort abwägen. „Ich bin ein Vampir, Tess.“
Heilige Muttergottes auf Rollschuhen, der war ja wirklich komplett durchgeknallt.
Oder liefen geistig Gesunde vielleicht herum und gaben sich als blutsaugende Ungeheuer aus? – Oder noch schlimmer, führten sie ihre perversen Fantasien in der Realität aus, so wie der Typ es mit ihr gemacht hatte?
Allerdings blieb die Tatsache bestehen, dass auf Tess’ Hals keine Spur einer Verletzung zu sehen war, obwohl sie sicher war – wirklich absolut todsicher –, dass er mit rasiermesserscharfen Reißzähnen in ihren Hals gebissen und eine ganze Menge von ihrem Blut geschluckt hatte.