III
Die schwere Verwundung Gregors, an der er "uber einen Monat litt – der Apfel blieb, da ihn niemand zu entfernen wagte, als sichtbares Andenken im Fleische sitzen –, schien selbst den Vater daran erinnert zu haben, dass Gregor trotz seiner gegenw"artigen traurigen und ekelhaften Gestalt ein Familienmitglied war, das man nicht wie einen Feind behandeln durfte, sondern dem gegen"uber es das Gebot der Familienpflicht war, den Widerwillen hinunterzuschlucken und zu dulden, nichts als zu dulden.
Und wenn nun auch Gregor durch seine Wunde an Beweglichkeit wahrscheinlich f"ur immer verloren hatte und vorl"aufig zur Durchquerung seines Zimmers wie ein alter Invalide lange, lange Minuten brauchte – an das Kriechen in der H"ohe war nicht zu denken –, so bekam er f"ur diese Verschlimmerung seines Zustandes einen seiner Meinung nach vollst"andig gen"ugenden Ersatz dadurch, dass immer gegen Abend die Wohnzimmert"ur, die er schon ein bis zwei Stunden vorher scharf zu beobachten pflegte, ge"offnet wurde, so dass er, im Dunkel seines Zimmers liegend, vom Wohnzimmer aus unsichtbar, die ganze Familie beim beleuchteten Tische sehen und ihre Reden, gewissermassen mit allgemeiner Erlaubnis, also ganz anders als fr"uher, anh"oren durfte.
Freilich waren es nicht mehr die lebhaften Unterhaltungen der fr"uheren Zeiten, an die Gregor in den kleinen Hotelzimmern stets mit einigem Verlangen gedacht hatte, wenn er sich m"ude in das feuchte Bettzeug hatte werfen m"ussen. Es ging jetzt meist nur sehr still zu. Der Vater schlief bald nach dem Nachtessen in seinem Sessel ein; die Mutter und Schwester ermahnten einander zur Stille; die Mutter n"ahte, weit unter das Licht vorgebeugt, feine W"asche f"ur ein Modengesch"aft; die Schwester, die eine Stellung als Verk"auferin angenommen hatte, lernte am Abend Stenographie und Franz"osisch, um vielleicht sp"ater einmal einen besseren Posten zu erreichen. Manchmal wachte der Vater auf, und als wisse er gar nicht, dass er geschlafen habe, sagte er zur Mutter: "Wie lange du heute schon wieder n"ahst! " und schlief sofort wieder ein, w"ahrend Mutter und Schwester einander m"ude zul"achelten.
Mit einer Art Eigensinn weigerte sich der Vater auch, zu Hause seine Dieneruniform abzulegen; und w"ahrend der Schlafrock nutzlos am Kleiderhaken hing, schlummerte der Vater vollst"andig angezogen auf seinem Platz, als sei er immer zu seinem Dienste bereit und warte auch hier auf die Stimme des Vorgesetzten. Infolgedessen verlor die gleich anfangs nicht neue Uniform trotz aller Sorgfalt von Mutter und Schwester an Reinlichkeit, und Gregor sah oft ganze Abende lang auf dieses "uber und "uber fleckige, mit seinen stets geputzten Goldkn"opfen leuchtende Kleid, in dem der alte Mann h"ochst unbequem und doch ruhig schlief.
Sobald die Uhr zehn schlug, suchte die Mutter durch leise Zusprache den Vater zu wecken und dann zu "uberreden, ins Bett zu gehen, denn hier war es doch kein richtiger Schlaf und diesen hatte der Vater, der um sechs Uhr seinen Dienst antreten musste, "ausserst n"otig. Aber in dem Eigensinn, der ihn, seitdem er Diener war, ergriffen hatte, bestand er immer darauf, noch l"anger bei Tisch zu bleiben, trotzdem er regelm"assig einschlief, und war dann "uberdies nur mit der gr"ossten M"uhe zu bewegen, den Sessel mit dem Bett zu vertauschen. Da mochten Mutter und Schwester mit kleinen Ermahnungen noch so sehr auf ihn eindringen, viertelstundenlang sch"uttelte er langsam den Kopf, hielt die Augen geschlossen und stand nicht auf. Die Mutter zupfte ihn am "Armel, sagte ihm Schmeichelworte ins Ohr, die Schwester verliess ihre Aufgabe, um der Mutter zu helfen, aber beim Vater verfing das nicht. Er versank nur noch tiefer in seinen Sessel. Erst bis ihn die Frauen unter den Achseln fassten, schlug er die Augen auf, sah abwechselnd die Mutter und die Schwester an und pflegte zu sagen: "Das ist ein Leben. Das ist die Ruhe meiner alten Tage. " Und auf die beiden Frauen gest"utzt, erhob er sich, umst"andlich, als sei er f"ur sich selbst die gr"osste Last, liess sich von den Frauen bis zur T"ure f"uhren, winkte ihnen dort ab und ging nun selbst"andig weiter, w"ahrend die Mutter ihr N"ahzeug, die Schwester ihre Feder eiligst hinwarfen, um hinter dem Vater zu laufen und ihm weiter behilflich zu sein.