Nun spricht aber doch noch anderes mit herein, das schwerer aus diesem Verh"altnis zwischen Volk und Josefine zu erkl"aren ist. Josefine ist n"amlich der gegenteiligen Meinung, sie glaubt, sie sei es, die das Volk besch"utze. Aus schlimmer politischer oder wirtschaftlicher Lage rettet uns angeblich ihr Gesang, nichts weniger als das bringt er zuwege, und wenn er das Ungl"uck nicht vertreibt, so gibt er uns wenigstens die Kraft, es zu ertragen. Sie spricht es nicht so aus und auch nicht anders, sie spricht "uberhaupt wenig, sie ist schweigsam unter den Plapperm"aulern, aber aus ihren Augen blitzt es, von ihrem geschlossenen Mund – bei uns k"onnen nur wenige den Mund geschlossen halten, sie kann es – ist es abzulesen. Bei jeder schlechten Nachricht – und an manchen Tagen "uberrennen sie einander, falsche und halbrichtige darunter – erhebt sie sich sofort, w"ahrend es sie sonst m"ude zu Boden zieht, erhebt sich und streckt den Hals und sucht den "Uberblick "uber ihre Herde wie der Hirt vor dem Gewitter. Gewiss, auch Kinder stellen "ahnliche Forderungen in ihrer wilden, unbeherrschten Art, aber bei Josefine sind sie doch nicht so unbegr"undet wie bei jenen. Freilich, sie rettet uns nicht und gibt uns keine Kr"afte, es ist leicht, sich als Retter dieses Volkes aufzuspielen, das leidensgewohnt, sich nicht schonend, schnell in Entschl"ussen, den Tod wohl kennend, nur dem Anscheine nach "angstlich in der Atmosph"are von Tollk"uhnheit, in der es st"andig lebt, und "uberdies ebenso fruchtbar wie wagemutig – es ist leicht, sage ich, sich nachtr"aglich als Retter dieses Volkes aufzuspielen, das sich noch immer irgendwie selbst gerettet hat, sei es auch unter Opfern, "uber die der Geschichtsforscher – im allgemeinen vernachl"assigen wir Geschichtsforschung g"anzlich – vor Schrecken erstarrt. Und doch ist es wahr, dass wir gerade in Notlagen noch besser als sonst auf Josefinens Stimme horchen. Die Drohungen, die "uber uns stehen, machen uns stiller, bescheidener, f"ur Josefinens Befehlshaberei gef"ugiger; gern kommen wir zusammen, gern dr"angen wir uns aneinander, besonders weil es bei einem Anlass geschieht, der ganz abseits liegt von der qu"alenden Hauptsache; es ist, als tr"anken wir noch schnell – ja, Eile ist n"otig, das vergisst Josefine allzuoft – gemeinsam einen Becher des Friedens vor dem Kampf. Es ist nicht so sehr eine Gesangsvorf"uhrung als vielmehr eine Volksversammlung, und zwar eine Versammlung, bei der es bis auf das kleine Pfeifen vorne v"ollig still ist; viel zu ernst ist die Stunde, als dass man sie verschw"atzen wollte.
Ein solches Verh"altnis k"onnte nun freilich Josefine gar nicht befriedigen. Trotz all ihres nerv"osen Missbehagens, welches Josefine wegen ihrer niemals ganz gekl"arten Stellung erf"ullt, sieht sie doch, verblendet von ihrem Selbstbewusstsein, manches nicht und kann ohne grosse Anstrengung dazu gebracht werden, noch viel mehr zu "ubersehen, ein Schwarm von Schmeichlern ist in diesem Sinne, also eigentlich in einem allgemein n"utzlichen Sinne, immerfort t"atig, – aber nur nebenbei, unbeachtet, im Winkel einer Volksversammlung zu singen, daf"ur w"urde sie, trotzdem es an sich gar nicht wenig w"are, ihren Gesang gewiss nicht opfern.
Aber sie muss es auch nicht, denn ihre Kunst bleibt nicht unbeachtet. Trotzdem wir im Grunde mit ganz anderen Dingen besch"aftigt sind und die Stille durchaus nicht nur dem Gesange zuliebe herrscht und mancher gar nicht aufschaut, sondern das Gesicht in den Pelz des Nachbars dr"uckt und Josefine also dort oben sich vergeblich abzum"uhen scheint, dringt doch – das ist nicht zu leugnen – etwas von ihrem Pfeifen unweigerlich auch zu uns. Dieses Pfeifen, das sich erhebt, wo allen anderen Schweigen auferlegt ist, kommt fast wie eine Botschaft des Volkes zu dem Einzelnen; das d"unne Pfeifen Josefinens mitten in den schweren Entscheidungen ist fast wie die armselige Existenz unseres Volkes mitten im Tumult der feindlichen Welt. Josefine behauptet sich, dieses Nichts an Stimme, dieses Nichts an Leistung behauptet sich und schafft sich den Weg zu uns, es tut wohl, daran zu denken. Einen wirklichen Gesangsk"unstler, wenn einer einmal sich unter uns finden sollte, w"urden wir in solcher Zeit gewiss nicht ertragen und die Unsinnigkeit einer solchen Vorf"uhrung einm"utig abweisen. M"oge Josefine besch"utzt werden vor der Erkenntnis, dass die Tatsache, dass wir ihr zuh"oren, ein Beweis gegen ihren Gesang ist. Eine Ahnung dessen hat sie wohl, warum w"urde sie sonst so leidenschaftlich leugnen, dass wir ihr zuh"oren, aber immer wieder singt sie, pfeift sie sich "uber diese Ahnung hinweg.
Aber es g"abe auch sonst noch immer einen Trost f"ur sie: wir h"oren ihr doch auch gewissermassen wirklich zu, wahrscheinlich "ahnlich, wie man einem Gesangsk"unstler zuh"ort; sie erreicht Wirkungen, die ein Gesangsk"unstler vergeblich bei uns anstreben w"urde und die nur gerade ihren unzureichenden Mitteln verliehen sind. Dies h"angt wohl haupts"achlich mit unserer Lebensweise zusammen.