„Ich – ich glaube nicht, daß er ein wildes Tier ist", sagte Digory mit völlig tonloser Stimme. „Er ist – ich weiß nicht ..."
„Dann ist er etwas noch Schlimmeres", sagte die Hexe. „Schau nur, was er dir angetan hat: Schau nur, wie herzlos er dich gemacht hat. Das macht er mit jedem, der ihm zuhört. Grausamer, herzloser Junge! Lieber läßt du deine Mutter sterben, als ... "
„Halten Sie endlich den Mund", sagte der unglückliche Digory, immer noch mit der gleichen Stimme. „Glauben Sie nur nicht, ich verstünde das alles nicht. Aber ich – ich habe mein Versprechen gegeben."
„Ja, aber du wußtest ja nicht, was du da versprachst. Und hier ist keiner, der dich zurückhält."
„Meiner Mutter wäre das nicht recht", sagte Digory, und er bekam kaum die Worte heraus. „Sie ist furchtbar streng. Versprechen muß man halten, und man darf nicht stehlen – und all das. Wenn sie da wäre, dann würde sie versuchen, mich davon abzuhalten. Auf jeden Fall."
„Aber sie braucht es ja nie zu erfahren", sagte die Hexe mit so süßer Stimme, wie man sie bei einer derart ungestüm aussehenden Frau nie erwartet hätte. „Du mußt ihr doch gar nicht erzählen, woher du den Apfel hast. Auch dein Vater braucht es nie zu erfahren. Keiner in deiner Welt braucht von dieser Sache etwas zu wissen. Es besteht kein Grund, das kleine Mädchen mitzunehmen."
Und hier machte die Hexe einen schwerwiegenden Fehler. Natürlich wußte Digory, daß Polly mit ihrem Ring jederzeit von hier verschwinden konnte, genau wie er mit seinem. Aber die Hexe wußte das offensichtlich nicht. Jetzt, nach diesem hinterhältigen Vorschlag, klang plötzlich all das, was sie zuvor gesagt hatte, hohl und falsch. Und so elend er sich auch fühlte, jetzt wurde sein Kopf plötzlich klar, und mit völlig veränderter und lauterer Stimme sagte er:
„Was hat das denn eigentlich mit
„Recht so, Digory", flüsterte ihm Polly ins Ohr. „Schnell! Nichts wie weg von hier!" Bisher hatte sie nicht gewagt, sich einzumischen, denn es war ja schließlich nicht
„Hinauf mit dir!" befahl Digory. Er hob sie auf Flügelpfeils Rücken und krabbelte hinterher, so schnell er nur konnte. Das Pferd breitete die Flügel aus.
„Geht nur, ihr Narren!" rief die Hexe. „Du wirst an mich denken, Junge, wenn du alt bist und schwach und im Sterben liegst. Und dann wird dir einfallen, daß du einmal die Gelegenheit hattest, dir die ewige Jugend zu bewahren. Nie wieder wird man dir so ein Angebot machen."
Doch sie flogen schon so hoch in der Luft, daß sie die letzten Worte der Hexe nur noch mit Mühe verstanden. Ohne sich die Zeit zu nehmen, dem Pferd und den Kindern nachzusehen, wandte sich Jadis nach Norden und kletterte den Abhang hinunter.
Da sie frühmorgens aufgebrochen waren und ihr Aufenthalt im Garten nicht lange gedauert hatte, waren sich Flügelpfeil und Polly einig, man könne ohne weiteres noch vor Einbruch der Dunkelheit wieder in Narnia sein. Digory sagte auf dem ganzen Rückweg kein einziges Wort, und die anderen scheuten sich, ihn anzusprechen. Er war sehr traurig. Zeitweise war er nicht einmal sicher, ob er richtig gehandelt hatte. Doch jedesmal, wenn ihm die schimmernden Tränen in Aslans Augen einfielen, schwanden seine Zweifel.
Flügelpfeil flog den ganzen Tag stetig und ohne zu ermüden. Nach Osten flog er, am Fluß entlang, zwischen den Bergen hindurch, über die wilden bewaldeten Hänge und den großen Wasserfall hinweg. Dann sanken sie tiefer und immer tiefer bis zu der Stelle, wo die mächtigen Klippen die Wälder Narnias verdunkelten, bis sich schließlich der Himmel rot verfärbte, als hinter ihnen die Sonne unterging. Jetzt entdeckte Flügelpfeil, daß sich am Flußufer viele Tiere versammelt hatten, und schon bald konnte er Aslan unter ihnen erkennen. Flügelpfeil ließ sich hinabgleiten, spreizte die Beine, schloß die Flügel und landete. Er galoppierte noch ein kleines Stückchen, dann blieb er stehen, und die Kinder kletterten von seinem Rücken.
Digory sah, wie all die Tiere, die Zwerge, die Satyre, die Nymphen und die anderen Kreaturen nach links und rechts zurückwichen, um ihm Platz zu machen. Er ging geradewegs zu Aslan, überreichte ihm den Apfel und sagte:
„Ich habe dir den Apfel gebracht, den du haben wolltest, Herr."
Ein Baum wird gepflanzt
"Gut gemacht!" sagte Aslan mit so mächtiger Stimme, daß die Erde bebte. Digory begriff, daß alle Narnianen diese Worte gehört hatten und daß dieses Ereignis jahrhundertelang, ja, vielleicht bis in alle Ewigkeit von einer Generation zur nächsten weitergegeben werden würde. Doch es bestand keine Gefahr, daß er sich darauf etwas einbildete. Auf diese Idee kam er überhaupt nicht, jetzt, wo er Aslan gegenüberstand. Diesmal konnte er dem Löwen geradewegs in die Augen sehen. Seine Sorgen hatte er völlig vergessen, und er war ganz und gar zufrieden.