In diesem ersten endlos langen Jahr war es ihm so vorgekommen, als breche sein Leben Stück für Stück auseinander. Wegen seines Klinikaufenthalts konnte er nicht rechtzeitig zu Semesterbeginn an der Medizinischen Hochschule erscheinen, was ihn fast den Studienplatz gekostet hätte. Während er sich von seinen Eltern und Freunden mehr und mehr zurückzog - Jake war in Harvard, Brian in Winnipeg vergrub er sich in die Lehrbücher. Dennoch war sein Notendurchschnitt an der untersten Grenze, so dass ihn seine Professoren mehr als einmal zu sich zitierten.
Doch mit der Zeit hatte das enorme Arbeitspensum, das er zu bewältigen hatte, wie Balsam gewirkt. Diese ersten vier Studienjahre vergingen wie im Fluge, vielleicht half auch das. Jedenfalls verwandelte sich die stets präsente Erinnerung an jenen tragischen Sommermorgen nach und nach in etwas, das nur noch undeutlich und unterbewusst vorhanden war, und das war eine Gnade für ihn.
Aber diese Erfahrung hatte ihn verändert. Verschwunden war der großspurige, selbstsichere junge Mann, der unbedingt Geburtshelfer hatte werden wollen. Verschwunden der Junge mit den wachen Augen, der geglaubt hatte, das Leben habe nur Gutes mit ihm vor. Wie sollte er seinen Facharzt in Geburtshilfe machen und Babys auf die Welt verhelfen, wenn er noch vor Studienbeginn einem Menschen auf brutale Weise, aus purer Unachtsamkeit das Leben geraubt hatte? Wie sollte die Zukunft irgendetwas anderes für ihn bereithalten als Schuld- und Schamgefühle?
Die Scham ... diese unaussprechliche Scham, die alles überdauerte, das Entsetzen und selbst das schlechte Gewissen. Sie verließ ihn nie, selbst als die Albträume nach und nach ausblieben.
Doch dann war er Krista begegnet, und selbst das Schamgefühl hatte sich mit der Zeit vermindert. Am Anfang ihrer Ehe hatte er eine Weile wieder Albträume gehabt, aber inzwischen hatte sich Scott noch mehr verändert, durch Kristas Liebe. Und durch ihr Kind. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich auch schon für sein Fachgebiet entschieden. Und als er sich zum Facharzt für Psychiatrie ausbilden ließ, was ihm dabei half, sein Inneres tiefer zu erforschen, waren die alten Wunden allmählich verheilt.
Irgendwann hatte er alles tief in seinem Inneren vergraben. Nicht vergessen, aber begraben.
Ehe sich Scott an diesem Abend auf einen schweren Kampf mit der Schlaflosigkeit einließ (den er schließlich gewann), rief er noch Vince Bateman unter dessen Privatnummer an. Er erzählte seinem Abteilungsleiter von dem schlimmen Erlebnis, bei dem er fast ertrunken wäre, und sagte, er werde sich den Montag freinehmen. Allerdings versprach er, an der jährlichen Budgetkonferenz der Abteilung am Montagabend teilzunehmen, wofür Bateman dankbar war, denn diesmal war Scott mit der Leitung dran.
Krista rief um zwanzig Uhr dreißig an und teilte ihm mit, es gehe ihnen gut. Klara sei so angetrunken und feindselig wie üblich und hacke wie immer auf ihrem grummelnden Schlappschwanz von Ehemann herum. Scott verbrachte eine ganze Weile damit, Krista zu versichern, er fühle sich schon viel besser und sei nur noch ein bisschen steif. Wohlweislich vermied er es, seine Hüfte zu erwähnen, die schrecklich pochte und Schuld daran war, dass er wie ein Krüppel humpelte. Danach kam Kath an den Apparat. Zu seiner Erleichterung stellte er fest, dass sie wieder viel normaler klang: fröhlich, unerschrocken und aufgeregt wegen der Reise. »Ich hab dich Heb«, sagte sie und schickte ihm ein feuchtes Küsschen durch die Leitung. Als sie auflegte, tat Scott das Herz ein bisschen weh. Es wäre ihm am liebsten gewesen, hätte er die ganze Woche blaumachen und sich zu ihnen nach Boston verdrücken können.
Vielleicht lag es an der Schmerztablette, die er vor dem Zu-Bett-Gehen eingenommen hatte, jedenfalls gewann er irgendwann im Laufe der Nacht den Kampf gegen die Schlaflosigkeit und fiel in traumlosen Schlummer. Recht spät am nächsten Morgen genehmigte er sich nach einer entspannenden Dusche ein riesiges cholesterinreiches Frühstück und zog sich danach an. Ehe er das Haus verließ, holte er fast gedankenlos den Film aus der Minolta und steckte ihn ein. Als er in der Garage war und merkte, dass dort nur Kristas Chevette auf ihn wartete, bekam er einen leichten Schreck. Er hatte völlig vergessen, dass sie seinen Volvo genommen hatte.
Auf dem Weg in die Stadt drehte er das Radio fast auf volle Lautstärke, damit es das Geratter des Chevette übertönte. Es war ein grauer, trüber Tag. Und es sah ganz danach aus, als könne es bis in alle Ewigkeit so bleiben.
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Wie der Verkäufer im Foto-Shop ihm mitteilte, würden die Abzüge in einer Stunde fertig sein, er könne, falls er wolle, darauf warten. »Vielleicht möchten Sie in der Zwischenzeit auf einen Kaffee und Donuts ins
Das war ihm recht. Der Kaffee ging ihm herunter wie süße, warme Medizin.