»Krista und Kath sind irgendwo in Neuengland unterwegs, mit dem Volvo. Ich muss sie dringend erreichen. Ich glaube, sie sind in Gefahr, Gerry ... ernsthaft in Gefahr. Ich weiß nicht genau, wo sie jetzt stecken, aber sie fahren nach Boston, also müssten sie inzwischen zumindest schon in Maine sein. Besteht irgendwie die Möglichkeit, dass du die Polizei dort einschaltest, damit sie den Wagen sucht und anhält?«
»Meine Güte, ganz schön viel verlangt, Kumpel. Welche Gefahr besteht denn überhaupt?«
»Stell bitte keine Fragen, Gerry, verlass dich einfach auf mein Wort, ja?«
»In Ordnung«, erwiderte Gerry nach kurzem Zögern. »Werd sehen, was ich tun kann. Hast du irgendeine Idee, welche Straße sie genommen haben könnten?«
»Letztes Mal haben wir erst die 302 genommen und danach die Interstate 95 bis nach Boston.«
»Naja, wenn Krista sich an die Hauptverkehrsstraßen hält, müsste sie eigentlich leicht zu finden sein. Ist sie ein Gewohnheitstier?«
»Nein«, erklärte Scott ohne zu zögern.
»Soll ich dich zu Hause anrufen?«, fragte Gerry.
»Ja, ich fahr gleich heim.« Was sollte Scott auch anderes tun.
14
Auf der letzten Strecke vor dem Haus begann der Chevette zu stottern und zu spucken. Scott hatte den Wagen hart rangenommen und die Tacho-Nadel bei jedem Schalten ins rote Feld getrieben, so dass jetzt auch der Temperaturanzeiger gefährlich rot blinkte.
Ehe er die Klinik verlassen hatte, war er nochmals zu dem Alten ins Zimmer gegangen, aber der Künstler schlief immer noch fest in seinem Rollstuhl am Fenster. Als Scott sich auf den Weg nach draußen gemacht hatte, waren ihm die Blicke der Krankenschwestern so gefolgt, als hätten sie es mit einem Aussätzigen zu tun. Wahrscheinlich hatten sie bereits von seiner Begegnung mit dem Alten gehört. Neuigkeiten verbreiteten sich schnell über den Buschfunk der Klinik.
Er parkte vor dem Haus, sprang aus dem Wagen und knallte die Tür hinter sich zu. Sein Bein beschwerte sich über die Belastung, doch Scott bemerkte es kaum. Auf dem Weg zum Haus zögerte er, denn es kam ihm so vor, als machten sich dessen leere Augen über ihn lustig. Ihm war innerlich kalt, und er fühlte sich wie ein Feigling. Ohne seine Familie wirkte das Haus nur wie eine Ansammlung von Steinen und Brettern; Echos spukten darin herum. Plötzlich konnte er den Gedanken, dort allein hineinzugehen, nicht ertragen.
Er blieb auf dem Weg stehen, vergrub die Hände in den Achselhöhlen und blickte zum stürmischen Himmel hinauf. Die Wolken da oben waren voller Leben, segelten in großen Flotten, die einander Schlachten lieferten, auf dem aufgewühlten Meer des Windes dahin. Der Mond - fast schon zum Vollmond gerundet - schien sich gegen die Flut zu stemmen. Eine feuchte Brise streifte Scotts Gesicht und kündigte Regen an. Von seinem Standort aus konnte er den See zwar nicht sehen, doch er wusste, dass auch das Wasser von Leben wimmelte. Er konnte hören, wie es dort unten, in der schwärzlichen Tiefe, herumkroch ...
Fröstelnd eilte er ins Haus.
Als ihn die Dunkelheit der Diele umfing, blieb er erneut stehen und versuchte, das seltsame Gefühl abzuschütteln, das ihm das Haus vermittelte. Der Gang vor ihm weitete sich zum Wohnzimmer, das nur als verschwommener Schatten auszumachen war. Im Dunkeln kam es ihm so vor, als sei es irgendwie verändert worden. Unvermittelt hatte er das beängstigende Gefühl, nicht allein im Haus zu sein.
Und da bemerkte er sie; eine kleine, schwarze Gestalt, die sich dunkel von ihrer Umgebung abhob und an der nahen Wand lehnte. Fast wäre er gleich wieder aus der Tür gerannt. Stattdessen griff er nach dem Lichtschalter und sorgte dafür, dass die Hundert-Watt-Birne die Diele erhellte.
Sofort verwandelte sich die Gestalt an der Wand in Jinnie, Kadis Flickenpuppe. Leicht hysterisch lachte Scott auf. Mit ihren Stummelhänden und dem ausgepolsterten Mondgesicht kam ihm Kaths Puppe wie eine deformierte Liliputanerin vor, die gerade die Agonie des Verstrahlungstodes erlitt. Er konnte sich nicht erklären, was Kinder an dieser Puppe fanden, aber in den letzten Jahren waren Flickenpuppen wie warme Semmeln weggegangen. Kath liebte ihre Puppe, tat so, als sei sie ihr eigenes kleines Kind, und nahm sie sogar mit ins Bett. Scott nahm an, dass Kath Jinnie am Sonntagmorgen gegen die Wand gelehnt und dort vergessen hatte, obwohl er sich nicht daran erinnern konnte, sie vorher hier gesehen zu haben. Er fragte sich, ob Kath sie vermisste.
Er hob die Puppe auf, klemmte sie sich unter den Arm und durchkämmte Zimmer für Zimmer, wobei er alle Lampen einschaltete, die er finden konnte. Heute Abend machte ihn die Dunkelheit nervös.
Schließlich setzte er sich, Kaths Puppe auf dem Schoß, auf einen Sessel am Mickymaus-Telefon im Fernsehzimmer und begann zu warten. Hin und wieder sah er durch die Schiebetür nach draußen, auf den See, in dem sich das Mondlicht spiegelte.
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