Kath war eingenickt. Das wunderte Krista, denn normalerweise musste Kath ihre Puppe Jinnie im Arm haben, ehe sie auch nur daran dachte, die Augen zu schließen. Lächelnd betrachtete Krista das Profil ihrer schlafenden Tochter. Mittlerweile häuften sich die unverkennbaren Anzeichen dafür dass Kath in die Pubertät kam. Dass sie ihre Puppe zu Hause vergessen hatte, war noch das mindeste. Meine Güte, sie entwickelte ja sogar schon Brüste und klagte über Krämpfe im Unterleib, die Krista daran erinnerten, dass sie selbst auch zu den Frühreifen gezählt hatte. Wenigsten war sie schon zwölf Jahre alt gewesen, als das alles losging - aber mit zehn?!
Kristas Laune wurde endlich wieder besser, wie sie selbst merkte. Am Vorabend, bei ihrer Schwester, war sie trübsinnig und unterschwellig auch wütend gewesen. Und diese Stimmung war heute am frühen Nachmittag in heftige Wut umgeschlagen, als sie gemerkt hatte, dass sie irgendwo in den Waldwegen der White Mountains gelandet waren und sich im wahrsten Sinne des Wortes auf dem Holzweg befanden. Sie hatte sich selbst versprochen, sich auf dieser Reise von Klara auf keinen Fall provozieren zu lassen, aber dieses Versprechen hatte sich als nutzlos erwiesen.
Wie ihre Mutter war Klara jemand, der über alles und jedes herzog. Mit dieser ablehnenden Haltung reagierte sie auf alles, was ihr begegnete. Und ein Lieblingsziel ihrer Angriffe war Scott, den sie bei jeder Gelegenheit nach Kräften schlecht machte. Krista war zwar klar, dass die Hasstiraden ihrer Schwester vor allem vom Alkohol beflügelt wurden, dennoch führten Klaras rohe und unbegründete Attacken unvermeidlich dazu, dass sie selbst in die Defensive geriet. Am Sonntagabend hatte Krista versucht, ihrer Schwester ausführlich davon zu erzählen, wie Scott beinahe ertrunken wäre. Hauptsächlich auch deshalb, um ein wenig von der Spannung abzubauen, die sich bei ihr selbst aufgrund dieses Erlebnisses angestaut hatte. Doch Klara war ihr schon nach wenigen Sekunden mit ätzenden Bemerkungen ins Wort gefallen.
»Willst du damit sagen, dass dieser Seelenklempner von Ehemann mit einem Kater tauchen gegangen ist? Mein Gott, was hast du doch für einen verantwortungslosen Mistkerl geheiratet. Und was erwartet er von dir und deinem Kind, während er auf dem Seegrund Entenmuscheln sammelt?« Wütend starrte sie Joe an. »Wenn
Krista, die angespannt und zornig war und gleichzeitig Mitleid mit ihrem Schlappschwanz von Schwager empfand, entschuldigte sich früh und ging zu Bett. Ruhelos warf sie sich die ganze Nacht hin und her und stand am Morgen schon eine Stunde vor dem Hahnenkrähen auf - ehe Klara Gelegenheit hatte, sie erneut in die Mangel zu nehmen. Flüsternd verabschiedete sie sich von Joe, ließ einen Zettel für ihre schnarchende Schwester da und scheuchte Kath hoch, noch ehe sie ihren Frühstückstoast aufgegessen hatte. Die Erleichterung darüber, dass ihre Flucht so glatt verlaufen war, und der viel versprechende blaue Himmel gaben ihr Hoffnung, dass ihre Reise trotz allem doch noch gut verlaufen würde.
Die Auseinandersetzung mit ihrer Schwester war schon schlimm genug gewesen, doch so zwangsläufig, als braue sich langsam ein Sturm zusammen, sollte es bald noch viel schlimmer kommen. Der Zollbeamte an der Grenze war offenbar mit dem falschen Bein zuerst aufgestanden und ganz scharf darauf, sie zu drangsalieren. Eine gute halbe Stunde verbrachte er damit, sich über den geöffneten Kofferraum des Volvo zu beugen und jedes einzelne Gepäckstück zu durchwühlen, das er finden konnte. Zurück blieb ein wildes Durcheinander. Zehn Minuten, nachdem sie die Landesgrenze nach Vermont überquert hatten, hielt sie ein Polizist wegen Verstoßes gegen die Geschwindigkeitsbeschränkung an und zwang sie, mit ihm zusammen mehr als zehn Kilometer zurück zur Polizeiwache irgendeiner kleinen Stadt zu fahren, damit sie dort die Geldbuße zahlte. Kurz vor Montpellier ging ihr das Benzin aus. Danach zeigte ihr ein erboster Tramper den Stinkefinger. Und auf der Terrasse vor dem McDonald's in Barre ging eine mordlustige Seemöwe im Sturzflug auf sie los.
Aber der Gipfel aller Katastrophen sollte erst noch kommen, nachdem sie die Stadtgrenze von Lincoln in New Hampshire passiert hatten.
»Eh, Mom, ich glaub, wir hätten da hinten rechts statt links abbiegen müssen«, meldete sich Kath. Es war eine Feststellung, in der ein vorwurfsvolles »Hab-ich's-dir-nicht-gleich-gesagt?!« mitschwang.