Wie zum Beispiel am Freitagabend, am Abend seines Geburtstages. Was hatte in dem Brief gestanden, den er an diesem Tag erhalten hatte - in dem Brief mit der Nachricht, dass sein früherer Kommilitone gestorben war? Was hatte er ihr verschwiegen? In seinem Gesicht hatte sich pures Entsetzen gespiegelt. Selbst wenn sein bester Freund Gerry gestorben wäre, hätte sie ein solcher Gesichtsausdruck verblüfft. Warum hatte er den Brief so ins Feuer geschleudert, als müsse er sich von einer zappelnden Schlange befreien?
Vor Jahren, als sie frisch verheiratet gewesen waren, hatten ihm Träume, nächtliche Albträume, so zu schaffen gemacht, dass er oft schreiend und schweißüberströmt aus dem Schlaf gefahren war. Und er hatte danach stets behauptet, er könne sich an den Inhalt dieser Träume überhaupt nicht erinnern. Und da waren noch andere Dinge gewesen, die ihr aufgefallen waren: Manchmal, wenn sie beide allein gewesen waren und Krista sich beim Fernsehen in seine Armbeuge geschmiegt hatte, war es ihr eindeutig so vorgekommen, als nehme er sie gar nicht wahr, als sei er der Wirklichkeit völlig entrückt. Das war ein recht unheimliches Gefühl gewesen.
Doch das war Schnee von gestern, wie sie sich selbst sagte. Inzwischen hatten sie ein wunderbares Familienleben, und auch die Zukunft sah rosig aus. Sie würden gemeinsam alt werden und Fett ansetzen. Scott fehlte ihr, wenn sie nicht beieinander waren, aber sie wusste auch, dass er solche Trennungen auf Zeit schwerer nahm als sie. Nach ein paar Tagen ließ er sich dann irgendwie gehen, trank zu viel, aß nichts Gescheites und vergaß auch, aufzuräumen oder sauber zu machen. Obwohl er, wenn Krista zu Hause war, häufig kochte und putzte - es schien ihm wirklich Spaß zu machen. Er war nicht notorisch schlampig oder nachlässig, nur brauchte er seine Familie um sich herum. Sie war der Kitt, der ihn zusammenhielt. Auch das war für Krista ein beruhigendes Gefühl: Ihr Mann brauchte sie wirklich. Und sie machte kein Hehl daraus, dass sie dieses Gefühl genoss.
Jenseits des Horizonts flackerten am Himmel, der von Elektrizität aufgeladen war, die grellen Blitze eines Hitzegewitters auf. Es sah so aus, als explodierten dort Bomben. Im steten Licht der Scheinwerfer fielen Krista die Blätter der Bäume am Straßenrand auf: Windböen rüttelten sie so durch, dass ihre silbernen Unterseiten zu sehen waren. Kristas Mutter hatte immer behauptet, das sei ein sicheres Anzeichen für aufkommenden Sturm.
Verärgert von der Aussicht, dadurch womöglich noch später anzukommen, drückte Krista noch ein bisschen stärker aufs Gaspedal. Die Tachonadel zeigte jetzt auf hundertzehn. Im Volvo kam ihr das gar nicht so schnell vor, besonders jetzt nicht, denn auf der Strecke war buchstäblich nichts los. Der Wagen hatte eine ausgezeichnete Straßenlage, und Krista bremste nur ab, wenn sie durch kleine Städte oder Dörfer fuhr, was inzwischen kaum noch vorkam.
Plötzlich trat sie so scharf auf die Bremse, dass der Wagen mit knirschenden Reifen zum Stehen kam. Vor der Windschutzscheibe waren leuchtende, bernsteinfarbene Augen aufgetaucht, die, wie sich jetzt herausstellte, Waschbären gehörten. Es war eine ganze Bärenfamilie - eine Mutter mit zwei Kleinen -, die gemächlich und hintereinander über den Asphalt schlurfte. Nachdem sie, offenbar ohne sonderliches Interesse, kurz zum Wagen herübergeschaut hatten, verschwanden die drei jenseits des Seitenstreifens im hohen Gras.
Kath fuhr mit einem letzten Schnarcher hoch. »Was ist los?«
Krista fuhr wieder an. »Nichts, Kleines, nur eine Bärenfamilie.« Dennoch hatte ihr Herzschlag sich heftig beschleunigt.
Kath drehte sich im Sitz um und blinzelte durch das Heckfenster. »Schade, ich hab sie verpasst.«
»Ich auch, da haben sie noch mal Glück gehabt.«
Kath lächelte, um gleich darauf - wandlungsfähig wie ein Chamäleon - das Gesicht zur Schmollmiene zu verziehen. »Wo ist Jinnie?«
»Zu Hause, in deinem Zimmer, nehme ich an«, erwiderte Krista und dachte:
»Ich hab sie vergessen ... ups!« Kath pupste - zwar leise, aber dennoch nicht zu überhören. »Hab gefurzt!«, kicherte sie.
Krista unterdrückte ein Lachen. »Sag nicht
»Hab doch gar nicht
»Kath«, mahnte Krista mit gespielter Strenge.
»Was soll ich denn sonst sagen?«
»Gar nichts. Wenn du furzt, sagst du besser gar nichts und versuchst, es einem anderen in die Schuhe zu schieben.«
Kath lachte. »Sind wir bald da?«, fragte sie nach kurzer Pause.
»Ist nicht mehr weit. Bist du müde?«
»Hm.« Sie wischte sich etwas Feuchtes aus dem Augenwinkel. »Hoffentlich geht's Daddy gut.«
»Bestimmt, Liebes. Du hast doch gestern Abend selbst mit ihm gesprochen, am Telefon.«
Der Volvo schwenkte gerade in eine scharfe Kurve, die erst über einen Buckel und dann steil hinunter führte. Vorsichtig lenkte Krista den Wagen durch die Kehre und sah danach zu Kath hinüber.