Lebenthal versuchte auszuspucken, aber sein Mund war trocken, und sein Gebiß flog bei der Anstrengung heraus. Er fing es im letzten Augenblick in der Luft auf und setzte es wieder ein. »Das hat man davon, daß man für euch jeden Tag sein Fell riskiert«, sagte er ärgerlich. »Vorwürfe und Befehle! Nächstens erscheint noch Karel mit Aufträgen.« 509 kam heran. »Was habt ihr?«
»Frag den da.« Lebenthal zeigte auf Bucher. »Gibt Befehle. Sollte mich nicht: wundern, wenn er Blockältester werden möchte.« 509 sah Bucher an. Er hat sich verändert, dachte er. Es ist mir nicht so aufgefallen, aber er hat sich verändert. »Was ist wirklich los?« fragte er.
»Gar nichts. Wir haben nur über das Gewitter geredet.«
»Was geht euch das Gewitter an?« »Nichts. Es ist nur sonderbar, daß es immer noch donnert.
Dabei sind keine Blitze da und auch keine Wolken. Nur die graue Suppe da oben. Aber! das sind doch keine Gewitterwolken.«
»Probleme! Es donnert, aber es blitzt nicht! Gojim naches!« krächzte Lebenthal von seinem Platz her. »Meschugge!« 509 sah zum Himmel. Er war grau und schien ohne Wolken zu sein. Dann lauschte er.
»Es donnert tatsä – «Er brach ab. Seine Haltung veränderte sich. Er lauschte plötzlich mit seinem ganzen Körper.
»Noch einer!« sagte Lebenthal. »Meschugge ist Trumpf heute.«
»Ruhig!« flüsterte 509 scharf.
»Also du auch -«
»Ruhig! Verdammt! Sei ruhig, Leo!«
Lebenthal schwieg. Er merkte, daß es nicht mehr um das Gewitter ging. Er beobachtete 509, der gespannt auf das ferne Rumpeln horchte. Alle schwiegen letzt und lauschten.
»Hört zu«, sagte 509 dann langsam und so leise, als fürchte er, etwas flöge davon, wenn er lauter spräche. »Das ist kein Gewitter. Das ist -«
Er horchte wieder. »Was?« Bucher stand dicht neben ihm. Beide blickten sich an und horchten.
Das Rumpeln wurde etwas lauter und sank dann zurück. »Das ist kein Donner«, sagte 509. »Das ist -« Er wartete noch einen Augenblick, dann sah er sich um und sagte, immer noch sehr leise:»Das ist Artilleriefeuer.«
»Was?«
»Artilleriefeuer. Das ist kein Donner.«
Alle starrten sich an. »Was habt ihr?« fragte Goldstein in der Tür.
Keiner antwortete etwas. »Nun – seid ihr erfroren?«
Bucher drehte sich um. »509 sagt, daß man Artilleriefeuer hören kann. Die Front kann nicht mehr weit weg sein.«
»Was?« Goldstein kam näher. »Wirklich? Oder phantasiert ihr bloß?«
»Wer würde bei so etwas Quatsch reden?«
»Ich meine: täuscht ihr euch nicht?« fragte Goldstein.
»Nein«, sagte 509.
»Verstehst du was davon?«
»Ja.«
»Mein Gott.« Rosens Gesicht verzerrte sich. Er begann plötzlich zu schluchzen.
509 horchte weiter. »Wenn der Wind umschlägt, müssen wir es deutlicher hören.«
»Was glaubst du, wie weit weg sie noch sein können?« fragte Bucher.
»Ich weiß nicht genau. Fünfzig Kilometer. Sechzig. Nicht viel weiter.«
»Fünfzig Kilometer. Das ist nicht weit.«
»Nein, das ist nicht weit.«
»Sie müssen Tanks haben. Sie können das rasch machen. Wenn sie durchbrechen – wieviel Tage glaubst du, brauchen sie – vielleicht nur einen -«, Bucher stockte.
»Einen Tag?« wiederholte Lebenthal. »Was sagst du da? Einen Tag?« Wenn sie durchbrechen.
Wir haben gestern noch nichts gehört. Heute ist es da.
Morgen kann es näher sein. Übermorgen – oder am Tag nach übermorgen -« »Rede nicht! Rede nicht so etwas! Mach keine Menschen verrückt!« schrie Lebenthal plötzlich.
»Es ist möglich, Leo«, sagte 509.
»Nein!« Lebenthal schlug die Hände vor die Augen.
»Was meinst du, 509?« Bucher hatte ein totblasses, erregtes Gesicht. »Übermorgen? Oder wieviel Tage?«
»Tage!« schrie Lebenthal und ließ die Hände sinken. »Wie können es jetzt nur noch Tage sein?«
murmelte er. »Jahre, Ewigkeiten, und jetzt redet ihr auf einmal von Tagen, Tagen! Lügt nicht!« Er kam näher. »Lügt nicht!« flüsterte er. »Ich bitte euch, lügt nicht!«
»Wer würde bei so etwas lügen?« 509 wendete sich um. Goldstein stand direkt hinter ihm. Er lächelte. »Ich höre es auch«, sagte er. Seine Augen wurden größer und größer und sehr schwarz.
Er lächelte und hob die Arme und die Beine in einer Gebärde, als. wolle er tanzen, lächelte nicht mehr und fiel vornüber.
»Er ist ohnmächtig geworden«, sagte Lebenthal. »Macht seine Jacke auf. Ich werde Wasser holen.
Es muß noch etwas in der Abflußrinne sein.«
Bucher, Sulzbacher, Rosen und 509 drehten Goldstein um. »Sollen wir Berger holen?« fragte Bucher. »Kann er aufstehen?«
»Warte.« 509 beugte sich dicht über Goldstein. Er knöpfte die Jacke und den Hosengurt auf. Als er sich aufrichtete, war Berger da. Lebenthal hatte ihm Bescheid gesagt. »Du solltest doch in deinem Bett bleiben«, sagte 509.
Berger kniete neben Goldstein nieder und horchte ihn ab. Es dauerte nicht lange. »Er ist tot«, erklärte er. »Herzschlag, wahrscheinlich. Es war immer zu erwarten. Sie haben sein Herz völlig kaputt gemacht.«
»Er hat es noch gehört«, sagte Bucher. »Das ist die Hauptsache. Er hat es noch gehört.«
»Was?« 509 legte den Arm um die schmalen Schultern Bergers. »Ephraim«, sagte er sanft. »Ich glaube, es ist soweit.«
»Was?«