Einmal hieß es, amerikanische Tanks seien in der Nähe der Stadt; dann kam durch, es seien deutsche Truppen, die die Stadt verteidigen würden.
Um drei Uhr erschien der neue Blockälteste. Es war ein Roter, kein Grüner »Keiner von uns«, sagte Werner enttäuscht.
»Warum nicht?« fragte 509. »Er ist einer von uns. Ein Politischer. Kein Krimineller.
Oder was meinst du mit ›uns‹?« »Das weißt du doch. Wozu fragst du?«
Sie saßen in der Baracke. Werner wollte bis nach dem Abpfeifen warten, um ins Arbeitslager zurückzugehen. 509 hielt sich versteckt, um zu sehen, wie der neue Blockälteste war. Neben ihnen röchelte sich ein Mann mit schmutzigen weißen Haaren an einer Lungenentzündung zu Tode.
»Einer von uns ist jemand, der zur Untergrundbewegung des Lagers gehört«, dozierte Werner.
»Das wolltest du doch wissen, wie?« Er lächelte.
»Nein«, erwiderte 509. »Das wollte ich nicht wissen. Und das meintest du auch nicht.«
»Einstweilen meine ich das.«
»Ja. Solange die Notgemeinschaft hier notwendig ist. Und dann?« »Dann«, sagte Werner, erstaunt über so viel Unwissenheit,»dann muß selbstverständlich eine Partei dasein, die die Macht übernimmt. Eine geschlossene Partei; nicht ein Haufen zusammengewürfelter Menschen.« »Also deine Partei. Die Kommunisten.« »Wer sonst?« »Jede andere«, sagte 509. »Nur nicht wieder eine totalitäre.« Werner lachte kurz auf. »Du Narr! Keine andere, nur eine totalitäre. Siehst du nicht die Zeichen an der Wand? Alle Zwischenparteien sind zerrieben. Der Kommunismus ist stark geblieben. Der Krieg wird zu Ende gehen. Rußland hat einen großen Teil Deutschlands besetzt. Es ist bei weitem die stärkste Macht in Europa. Die Zeit der Koalitionen ist vorbei. Dieses war die letzte. Die Alliierten haben dem Kommunismus geholfen und sich selbst geschwächt, die Narren. Der Weltfriede wird abhängen von -« »Ich weiß«, unterbrach 509. »Ich kenne das Lied. Sag mir lieber, was mit denen geschähe, die gegen euch sind, wenn ihr gewinnen würdet und die Macht hättet? Oder denen, die nicht für euch sind?« Werner schwieg einen Moment. »Da gibt es viele verschiedene Wege«, sagte er dann. »Ich kenne welche. Du auch. Töten, Foltern, Konzentrationslager – meinst du die auch?« »Unter anderem. Je nachdem, was notwendig ist,« »Das ist ein Fortschritt. Wert, dafür hiergewesen zu sein!« »Es ist ein Fortschritt«, erklärte Werner unbeirrt. »Es ist ein Fortschritt im Ziel. Und auch in der Methode. Wir tun nichts aus Grausamkeit. Nur aus Notwendigkeit.« »Das habe ich oft genug gehört. Weber hat es mir auch erklärt, als er mir Streichhölzer unter die Nägel trieb und sie verbrannte. Es war notwendig, um Informationen zu bekommen.« Das Atmen des weißhaarigen Mannes ging in das stockende Todesröcheln über, das jeder im Lager kannte. Das Röcheln setzte manchmal aus; dann hörte nun in der Stille das leise Grollen am Horizont. Es war wie eine Litanei – der letzte Atem des Sterbenden und die Antwort aus der Ferne. Werner sah 509 an Er wußte, daß Weber ihn wochenlang gefoltert hatte, um Namen und Adressen von ihm zu bekommen. Werners Adresse auch. 509 hatte geschwiegen. Werner war dann später von einem schwachen Parteigenossen verraten worden. »Warum kommst du nicht zu uns, Koller?« fragte er. »Wir können dich gebrauchen.« »Das hat Lewinsky mich auch gefragt. Und darüber haben wir beide schon vor zwanzig Jahren diskutiert.« Werner lächelte. Es war ein gutes, entwaffnendes Lächeln. »Das haben wir. Oft genug. Trotzdem frage ich dich wieder. Die Zeit des Individualismus ist vorbei. Man kann nicht mehr allein stehen. Und die Zukunft gehört uns. Nicht der korrupten Mitte.« 509 blickte auf den Asketenkopf. »Wenn dieses hier vorbei ist«, sagte er langsam,»dann soll es mich wundern, wie lange es dauern wird, bis du ebenso mein Feind bist, wie die da auf den Türmen es jetzt sind.« »Nicht lange. Wir hier hatten eine Notgemeinschaft gegen die Nazis. Die fällt weg, wenn der Krieg zu Ende ist.« 509 nickte. »Es soll mich ebenfalls wundem, wie lange es dauern würde, wenn ihr die Macht hättet, bis du mich einsperren ließest.« »Nicht lange. Du bist immer noch gefährlich. Aber du würdest nicht gefoltert werden.« 509 zuckte die Achseln. »Wir würden dich einsperren und arbeiten lassen. Oder dich erschießen.« »Das ist tröstlich. So habe ich mir euer goldenes Zeitalter immer vorgestellt.« »Deine Ironie ist billig. Du weißt, daß Zwang nötig ist. Er ist die Verteidigung für den Beginn. Später wird er nicht mehr erforderlich sein.« »Hoch«, sagte 509. »Jede Tyrannei braucht ihn. Und jedes Jahr mehr; nicht weniger. »Das ist ihr Schicksal. Und immer ihr Ende. Du siehst es hier.« Nein. Die Nazis haben den fundamentalen Irrtum begangen, einen Krieg anzufangen, dem sie nicht gewachsen waren.«
»Es war kein Irrtum. Es war eine Notwendigkeit. Sie konnten nicht anders. Hätten sie abrüsten müssen und Frieden halten, so wären sie bankrott gewesen.
»Es wird euch ebenso gehen.«
»Wir werden unsere Kriege gewinnen. Wir führen sie anders. Von innen.«