»Ja, von innen und nach innen. Ihr könnt die Lager hier dann gleich behalten. Und sie füllen.«
»Das können wir«, sagte Werner völlig ernst. »Warum kommst du nicht zu uns? «wiederholte er dann.
»Genau deshalb nicht. Wenn du draußen an die Macht kämst, würdest du muh liquidieren lassen.
Ich dich nicht. Das ist der Grund.« Der weißhaarige Mann röchelte jetzt in großen Zwischenräumen. Sulzbacher kam herein. »Sie sagen, daß deutsche Flieger morgen früh das Lager bombardieren sollen. Alles zerstören.«
»Eine neue Latrinenparole«, erklärte Werner. »Ich wollte, es wäre schon dunkel. Ich muß nach drüben.«
Bucher blickte zu dem weißen Haus auf dem Hügel jenseits des Lagers hinüber. Es stand in der schrägen Sonne zwischen den Bäumen und schien unversehrt. Die Bäume des Gartens hatten einen hellen Schimmer, als seien sie überflogen vom ersten Rosa und Weiß der Kirschblüten.
»Glaubst du es jetzt endlich?« fragte er. »Du kannst ihre Kanonen hören. Sie kommen jede Stunde näher. Wir kommen heraus.«
Er sah wieder auf das weiße Haus. Es war sein Aberglaube, daß, solange es heil war, alles gut werden würde. Ruth und er würden am Leben bleiben und gerettet werden.
»Ja.« Ruth hockte neben dem Stacheldraht. »Und wohin sollen wir gehen, wenn wir hinauskommen?« fragte sie. »Weg von hier. So weit wie möglich«
»Wohin?«
»Irgendwohin. Vielleicht lebt mein Vater noch.«
Bucher glaubte es nicht; aber er wußte nicht genau, ob sein Vater tot war. 509 wußte es, doch er hatte es ihm nie gesagt.
»Bei mir lebt niemand mehr«, sagte Ruth. »Ich war dabei, als man sie abholte zu den Gaskammern.«
»Vielleicht sind sie nur auf einen Transport geschickt worden. Oder man hat sie anderswo leben lassen. Dich hat man doch auch leben lassen«. »Ja«, erwiderte Ruth.
»Mich hat man leben lassen.«
»Wir hatten in Münster ein kleines Haus. Vielleicht steht es noch. Man hat es uns weggenommen.
Wenn es noch steht, werden wir es vielleicht wiederbekommen. Wir können dann hinfahren und dort unterkommen.«
Ruth Holland antwortete nicht. Bucher blickte zu ihr hinüber und sah, daß sie weinte.
Er hatte sie fast nie weinen sehen und glaubte, es sei, weil sie sich an ihre toten Angehörigen erinnert hatte. Tod aber war etwas so Alltägliches im Lager, daß es ihm übertrieben schien, nach so langer Zeit noch so viel Schmerz zu zeigen. »Wir dürfen nicht zurückdenken, Ruth«, sagte er mit einem Schatten von Ungeduld. »Wie sollten wir sonst jemals wieder leben können?« »Ich denke nicht zurück.« »Warum weinst du dann?«
Ruth Holland wischte die Tränen mit den geballten Händen aus den Augen. »Willst du wissen, weshalb man mich nicht vergast hat?« fragte sie.
Bucher spürte unklar, daß etwas kam, von dem er besser nichts wußte. »Du, brauchst es mir nicht zu sagen«, erklärte er,»Aber du kannst es auch sagen, wenn du willst. Es macht nichts aus.«
»Es macht etwas aus. Ich war siebzehn Jahre alt. Damals war ich nicht so häßlich wie heute.
Deshalb ließ man mich leben.«
»Ja«, sagte Bucher, ohne sie zu verstehen.
Sie blickte ihn an. Er sah zum ersten Male, daß sie sehr durchsichtige, graue Augen hatte. Früher hatte er es nie so gemerkt. »Begreifst du nicht, was das heißt?« fragte sie.
»Nein.«
»Man ließ mich leben, weil man Frauen brauchte. Junge – für die Soldaten. Für die Ukrainer auch, die mit den Deutschen zusammen kämpften. Begreifst du es nun?«
Bucher saß einen Augenblick wie betäubt. Ruth beobachtete ihn. »Das haben sie mit dir getan?«
fragte er schließlich. Er sah sie nicht an.
»Ja. Das haben sie mit mir getan.« Sie weinte nicht mehr,»Es ist nicht wahr.«
»Es ist wahr.«
»Ich meine es nicht so. Ich meine, daß du es nicht gewollt hast.«
Sie brach in ein kurzes, bitteres Lachen aus. »Da ist kein Unterschied.«
Bucher sah sie jetzt an. In ihrem Gesicht schien jeder Ausdruck erloschen zu "ein; aber gerade das machte es zu einer solchen Maske des Schmerzes, daß er plötzlich fühlte und nicht nur hörte, daß sie die Wahrheit gesagt hatte. Er fühlte es, als zerreiße es seinen Magen; aber gleichzeitig wollte er es nicht anerkennen, noch nicht – er wollte im Moment nur eins: daß dieses Gesicht vor ihm sich ändere.
»Es ist nicht wahr«, sagte er. »Du hast es nicht gewollt. Du warst nicht dabei. Du hast es nicht getan.«
Ihr Blick kam aus einer Leere zurück. »Es ist wahr. Und man kann es nicht vergessen.«
»Niemand von uns weiß, was er vergessen kann und was nicht. Wir alle müssen vieles vergessen.
Sonst können wir ebensogut hierbleiben und sterben.«
Bucher hatte etwas wiederholt, was 509 am Abend vorher gesagt hatte. Wie lange war das her?
Jahre. Er schluckte einige Male. »Du lebst«, sagte er dann mit Anstrengung.
»Ja, ich lebe. Ich bewege mich, ich spreche Worte, ich esse Brot, das du mir herüberwirfst – und das andere lebt auch. Lebt! Lebt!«
Sie drückte die Hände gegen die Schläfen und wendete den Kopf. Sie sieht mich an, dachte Bucher, sie sieht mich schon wieder an. Sie spricht nicht nur mehr gegen den Himmel und den Hügel mit dem Haus. »Du lebst«, wiederholte er. »Das ist genug für mich.«