Lebenthal öffnete die Tür und hockte sich draußen hin. Er hielt das abgerissene Zeitungsstück in das Ungewisse, webende Licht. Er studierte es lange. »Ich glaube, es ist ein Heeresbericht -«, sagte er dann.
»Lies!« flüsterte 509. »So lies doch, Mensch!«
»Hat keiner ein Streichholz?« fragte Berger.
»Remagen -«, sagte Lebenthal. »Am Rhein -«
»Was?«
»Die Amerikaner sind bei Remagen – über den Rhein gegangen!«
»Was, Leo? Hast du richtig gelesen? Über den Rhein? Steht da nicht was anderes? Ein französischer Fluß?«
»Nein – Rhein – bei Remagen – Amerikaner -«
»Mach keinen Unsinn! Lies richtig! Lies um Gottes willen richtig, Leo!« »Es stimmt«, sagte Lebenthal. »Es steht hier so. Ich sehe es jetzt deutlich.« »Über den Rhein? Wie ist das möglich?
Dann sind sie ja in Deutschland! So lies doch weiter! Lies! Lies!«
Sie krächzten durcheinander. 509 spürte nicht, wie seine Lippen aufrissen. »Über den Rhein! Aber wie denn? Mit Flugzeugen? Mit Booten? Wie? Mit Fallschirmen? Lies, Leo!«
»Brücke«, buchstabierte Lebenthal. »Sie haben – eine Brücke gekreuzt – die Brücke ist – unter schwerem deutschem Feuer -« »Eine Brücke?« fragte Berger ungläubig. »Ja, eine Brücke – bei Remagen -«
»Eine Brücke«, wiederholte 509. »Eine Brücke – über den Rhein? Dann muß die Armee – lies weiter, Leo! Da muß noch mehr stehen!« »Das Kleingedruckte kann ich nicht lesen.« »Hat denn keiner ein Streichholz?« fragte Berger verzweifelt. »Hier -«, erwiderte jemand aus dem Dunkel.
»Hier sind noch zwei.« »Komm herein, Leo.«
Sie formten eine Gruppe neben der Tür. »Zucker«, jammerte Ammers. »Ich weiß, ihr habt Zucker.
Ich habe es gehört. Ich will meinen Anteil.«
»Gib dem verdammten Hund ein Stück, Berger«, flüsterte 509 ungeduldig. »Nein.«
Berger suchte nach der Zündfläche. »Haltet die Decken und Jacken vor die Fenster. Kriech in die Ecke unter die Decke, Leo. Los!«
Er zündete das Streichholz an. Lebenthal begann zu lesen, so rasch er konnte. Es waren die üblichen Vertuschungen. Die Brücke sei wertlos, die Amerikaner seien unter schwerstem Feuer und abgeschnitten auf dem erreichten Ufer, Kriegsgericht erwarte die Truppe, die die Brücke nicht zerstört habe – Das Streichholz erlosch. »Die Brücke nicht zerstört -«, sagte 509. »Sie haben sie also – intakt gekreuzt. Wißt ihr, was das heißt?« »Sie müssen überrascht worden sein -«
»Das heißt, daß der Westwall durchbrochen ist«, sagte Berger, so vorsichtig, als glaube er zu träumen. »Der Westwall durchbrochen! Sie sind durch!«
»Es muß die Armee sein. Keine Fallschirmtruppe. Eine Fallschirmtruppe wäre hinter dem Rhein abgesprungen.«
»Mein Gott, und wir haben nichts gewußt! Wir haben gedacht, daß die Deutschen noch einen Teil von Frankreich halten!«
»Lies es noch einmal, Leo!« sagte 509. »Wir müssen sicher sein. Von wann ist es? Ist ein Datum drauf?«
Berger zündete das zweite Streichholz an. »Licht aus!« schrie jemand.
Lebenthal las bereits. »Von wann?« unterbrach 509.
Lebenthal suchte. »11. März 1945.« »11. März 45. Und was ist heute?«
Keiner wußte genau, ob es Ende März oder Anfang April war. Sie hatten im Kleinen Lager verlernt zu zählen. Aber sie wußten, daß der 11. März schon einige Zeit vorbei war. »Laßt es mich sehen, rasch«, sagte 509.
Er war, ohne auf die Schmerzen zu achten, zu der Ecke hinübergekrochen, wo sie die Decke hielten. Lebenthal rückte beiseite. 509 blickte auf das Blatt Papier und las. Der schmale Kreis des erlöschenden Zündholzes beleuchtete gerade noch die Überschrift.
»Zünde eine Zigarette an, Berger, schnell!«
Berger tat es, während er kniete. »Wozu bist du hierhergekrochen?« fragte er und schob ihm die Zigarette in den Mund. Das Streichholz erlosch.
»Gib mir das Blatt«, sagte 509 zu Lebenthal.
Lebenthal gab es ihm. 509 faltete es zusammen und steckte es in sein Hemd. Er spürte es auf der Haut. Dann tat er einen Zug aus der Zigarette. »Hier – gib sie weiter.«
»Wer raucht da?« fragte der Mann, der die Zündhölzer gegeben hatte.
»Ihr kommt auch dran. Jeder einen Zug.«
»Ich will nicht rauchen«, jammerte Ammers. »Ich will Zucker.« 509 kroch auf sein Bett zurück.
Berger und Lebenthal halfen ihm. »Berger«, flüsterte er nach einer Weile. »Glaubst du es nun?«
»Ja -«
»Es war doch richtig mit der Stadt und dem Bombardement -«
»Ja.«
»Du auch, Leo?«
»Ja -«
»Wir kommen 'raus – wir müssen -«
»Wir werden das alles morgen besprechen«, sagte Berger. »Schlaf jetzt.« 509 ließ sich zurücksinken. Ihm war schwindelig. Er glaubte, daß es von dem Zug an der Zigarette käme. Das kleine, rote Lichtpünktchen wanderte, von Händen abgeschirmt, durch die Baracke. »Hier«, sagte Berger. »Trinkt das Zuckerwasser noch.« 1509 trank. »Behaltet die anderen Stücke«, flüsterte er.
»Löst sie nicht auf. Wir können Essen dafür tauschen. Richtiges Essen ist wichtiger.«
»Da sind noch mehr Zigaretten«, krächzte jemand. »Gebt die anderen her!«
»Da sind keine mehr«, erwiderte Berger.
»Doch! Ihr habt noch mehr. Her damit!«
»Das, was gebracht worden ist, ist für die beiden vom Bunker.«
»Quatsch! Es ist für alle. Her damit!«