Keiner wagte dabei, die Reihe zu verlassen; die anderen hatten ihn nicht wieder an seinen Platz gelassen. Trotzdem gelang es den Skeletten, Lebenthal umzureißen und mit Füßen zu treten. Es schadete ihm wenig sie hatten keine Kraft. Er richtete sich auf. Er hatte nicht betrügen wollen. Er war auf der Suche nach Bethke vom Transportkommando. Man hatte ihm gesagt, Bethke sei hierher gegangen. Eine Zeitlang wartete er noch am Ausgang, weit genug von de schimpfenden Reihe entfernt. Bethke war ein Kunde für den Zahn Lohmanns. Er kam nicht. Lebenthal konnte auch nicht verstehen, was er auf dieser lausten Latrine zu tun haben sollte. Zwar wurde auch hier etwas gehandelt; aber ein Bonze wie Bethke hatte für so etwas ganz andere Gelegenheiten. Lebenthal gab das Warten schließlich auf und ging zur Waschbaracke hinüber. Sie bestand aus einem kleineren Trakt, der sich an die Latrine anschloß und lange Zementtröge enthielt, über denen Wasserrohre mit kleinen Öffnungen angebracht waren. Trauben von Häftlingen drängten sich darum; die meisten, um zu trinken oder das Wasser in Blechbüchsen aufzufangen und es mitzunehmen. Es war immer zu wenig Wasser da, um sich wirklich waschen zu können – und wer sich auszog, um es zu versuchen, mußte stets Angst haben, daß seine Sachen inzwischen gestohlen wurden. Der Waschraum war bereits ein Platz für den etwas besseren schwarzen Markt. Auf der Latrine wurden höchstens Brotkrusten, Abfall und ein paar Zigarettenstummel umgesetzt. Der Waschraum dagegen war schon ein Ort für die kleinen Kapitalisten. Hierher kamen bereits Leute vom Arbeitslager. Lebenthal drängte sich langsam hindurch. »Was hast du?« fragte ihn jemand. Leo sah den Mann kurz an. Es war ein abgerissener Häftling, der nur ein Auge hatte. »Nichts.« »Ich habe Karotten.« »Kein Interesse.« Lebenthal wirkte im Waschraum plötzlich entschlossener als je in Baracke 22. »Kaffer.« »Selber einer.« Lebenthal kannte einige der Händler. Er hätte um die Karotten gehandelt, wenn er heute nicht auf Bethke aus gewesen wäre. Es wurden ihm noch Sauerkraut, ein Knochen und einige Kartoffeln zu Wucherpreisen angeboten; er lehnte sie ab und ging weiter. In der äußersten Ecke der Baracke bemerkte er einen jungen Burschen mit weibischen Zügen, der nicht hierher zu gehören schien. Er aß gierig etwas aus einer Konservenbüchse, und Lebenthal sah, daß er nicht nur dünne Suppe aß; er kaute auch. Neben ihm stand ein gut genährter Häftling von etwa vierzig Jahren, der ebenfalls nicht in den Raum paßte. Er gehörte ohne Zweifel zur Aristokratie des Lagers. Sein kahler, fetter Kopf glänzte, und seine Hand glitt langsam über den Rücken des Burschen. Das Haar des Jungen war nicht geschoren; er trug es gut gekämmt, mit einem Scheitel. Er war auch nicht schmutzig. Lebenthal drehte sich um. Er wollte enttäuscht zu dem Karottenverkäufer zurückgehen, als er Bethke plötzlich kommen und sich rücksichtslos zu der Ecke durchdrängen sah, wo der Junge stand. Lebenthal trat ihm in den Weg. Bethke stieß ihn beiseite und stellte sich vor den Jungen. »So, hier hast du dich versteckt, Ludwig, du Hure! Da habe ich dich doch mal erwischt!« Der Junge starrte ihn an und schluckte eilig. Er erwiderte nichts. »Mit einem verdammten Kahlkopf von einem Küchenbullen«, ergänzte Bethke giftig. Der Küchenbulle beachtete Bethke nicht. »Iß, mein Junge«, sagte er träge zu Ludwig. »Wenn du dann noch hungrig bist, kannst du mehr haben.« Bethke wurde rot. Er schlug mit der Faust gegen die Konservendose. Der Inhalt schwappte über, Ludwig ins Gesicht. Ein Kartoffelstück fiel auf den Boden. Zwei Skelette stürzten sich darauf, rissen es weg und schlugen sich darum. Bethke trat sie beiseite. »Kriegst du von mir nicht genug?« fragte er. Ludwig hielt die Dose mit beiden Händen fest an die Brust gedrückt. Er verzog ängstlich sein Gesicht und blickte von Bethke zu dem Kahlkopf. »Scheinbar nicht«, erklärte der Küchenbulle in die Richtung Bethkes. »Mach dir nichts draus«, sagte er dann zu dem Jungen. »Iß weiter, und wenn du nicht genug hast, gibt's mehr. Von mir kriegst du auch keine Prügel.« Bethke sah aus, als wolle er sich auf den Kahlkopf stürzen; aber er traute sich nicht. Er wußte nicht, wieviel Protektion der andere hatte. So etwas war außerordentlich wichtig im Lager. Wenn der Kahlkopf die volle Protektion des Küchenkapos hatte, konnte eine Schlägerei schlecht für Bethke ausgehen. Die Küche hatte glänzende Verbindungen, und es war bekannt, daß sie Schiebungen mit dem Lagerältesten und mit verschiedenen SS-Leuten machte. Bethkes eigener Kapo dagegen mißtraute ihm. Bethke wußte, daß er nicht viel für ihn tun würde; er hatte zu wenig Schmiere von ihm bekommen. Das Lager war voll von solchen Intrigen. Bethke konnte glatt seinen Posten verlieren und wieder ein einfacher Sträfling werden, wenn er nicht vorsichtig war. Dann war es vorbei mit den erträglichen Geschäften außerhalb des Lagers, während der Fahrten zum Bahnhof und zum Depot. »Was soll das alles heißen?« fragte er den Kahlkopf ruhiger. »Was geht es dich an?« Bethke schluckte. »Es geht mich was an.« Er wandte sich an den Jungen. »Habe ich dir nicht den Anzug besorgt?« Ludwig hatte eilig weitergegessen, während Bethke mit dem Kahlkopf sprach. Jetzt ließ er die Dose fallen, drückte sich mit einer raschen, unvermuteten Bewegung zwischen den beiden hindurch und drängte dem Ausgang zu. Ein paar Skelette balgten sich bereits um die Dose, um sie auszukratzen. »Komm wieder«, rief der Küchenbulle dem Jungen nach. »Bei mir gibt es immer genug.« Er lachte. Bethke hatte versucht, den Burschen zu halten, war aber über die Skelette am Boden gestolpert. Er kam wütend hoch und trat auf die huschenden Finger. Eines der Skelette quietschte wie eine Maus. Das andere entkam mit der Büchse. Der Küchenbulle begann den Walzer »Rosen aus dem Süden« zu pfeifen und ging herausfordernd langsam an Bethke vorbei. Er hatte einen Bauch und war gut genährt. Sein dicker Hintern wippte. Fast alle Sträflinge in der Küche waren gut im Futter. Bethke spuckte hinter ihm her. Er spuckte aber so vorsichtig, daß er nur Lebenthal traf. »Da bist du ja«, sagte er grob. »Was willst du? Komm mit. Woher weißt du, daß ich hier bin?« Lebenthal antwortete auf keine der Fragen. Er war im Geschäft; da war keine Zeit zu überflüssigen Erklärungen. Er hatte zwei ernsthafte Reflektanten für den Zahn Lohmanns: Bethke und einen Vormann von einem der Außenkommandos. Beide brauchten Geld. Der Vormann war einer gewissen Mathilde hörig, die in derselben Fabrik arbeitete wie er und die er durch Bestechungen ab und zu allein treffen konnte. Sie wog fast 200 Pfund und erschien ihm überirdisch schön; Gewicht war im Lager dauernden Hungers ein Maßstab für Schönheit. Er hatte Lebenthal einige Pfund Kartoffeln und ein Pfund Fett angeboten. Lebenthal hatte abgelehnt und gratulierte sich jetzt dazu. Er hatte die Szene von vorher blitzschnell kalkuliert und versprach sich nun mehr von dem schwulen Bethke. Abnormale Liebe hielt er für opferbereiter als normale. Nach dem, was er beobachtet hatte, hatte er auch in Gedanken sofort seinen Preis erhöht. »Hast du den Zahn bei dir?« fragte Bethke. »Nein.« Sie standen draußen. »Ich kaufe nichts, was ich nicht sehe.« »Eine Krone ist eine Krone. Backenzahn. Schweres, solides Friedensgold.« »Mist! Erst sehen! Sonst ist nichts zu wollen.«