Handke hatte seinen Tag; er mußte irgendwoher Alkohol bekommen haben. Es war nicht mehr möglich, unbemerkt an ihm vorüber in die Baracke zu kommen, um den Hund zu verstecken und die anderen zu warnen. Lebenthal glitt deshalb leise hinter die Rückwand der Baracke und versteckte sich im Schatten.
Westhof war der erste, dem Handke begegnete. »Heda, du!« schrie er.
Westhof blieb stehen.
»Weshalb bist du nicht in der Baracke?«
»Ich bin auf dem Wege zur Latrine.«
»Selber Latrine. Komm hierher!«
Westhof trat näher. Er sah im Nebel Handkes Gesicht nur undeutlich.
»Wie heißt du?«
»Westhof.«
Handke schwankte. »Du heißt nicht Westhof. Du heißt stinkender Saujude. Wie heißt du?«
»Ich bin kein Jude.«
»Was?« Handke schlug ihm ins Gesicht. »Von welchem Block bist du?«
»Zweiundzwanzig.«
»Auch das noch! Von meinem eigenen! Lump! Welche Stube?«
»Stube D!«
»Hinlegen!«
Westhof warf sich nicht hin. Er blieb stehen. Handke trat einen Schritt näher. Westhof sah jetzt sein Gesicht und wollte weglaufen. Handke trat ihm gegen das Schienbein. Er war als Blockältester gut genährt und viel stärker als jedermann im Kleinen Lager.
Westhof fiel, und Handke trat ihm gegen die Brust. »Hinlegen, Judenschwein!«
Westhof legte sich flach auf den Boden.
»Stube D 'raustreten!« schrie Handke.
Die Skelette kamen heraus. Sie wußten bereits, was geschehen würde. Einer von ihnen würde verprügelt werden. Handkes Sauftage endeten immer so. »Sind das alle?« lallte Handke.
»Stubendienst!«
»Jawohl!« meldete Berger.
Handke starrte durch das neblige Dunkel auf die Reihen. Bucher und 509 standen zwischen den anderen. Sie konnten mühselig wieder gehen und stehen. Ahasver fehlte.
Er war mit dem Schäferhund in der Baracke geblieben. Wenn Handke gefragt hätte, hätte Berger ihn als tot gemeldet. Aber Handke war betrunken und hätte auch nüchtern nicht genau Bescheid gewußt. Er ging ungern in die Baracken, aus Angst vor Dysenterie und Typhus.
»Wer sonst will hier noch Gehorsam verweigern?« Handkes Stimme wurde dicker.
»Laus – Lausejuden!«
Niemand antwortete. »Schteht schtramm! Wie Kultur – Kulturmenschen!«
Sie standen stramm. Handke glotzte sie eine Weile an, dann drehte er sich um und begann Westhof, der noch auf dem Boden lag, mit Füßen zu treten. Westhof hielt seinen Kopf mit den Armen geschützt. Handke trat ihn eine Zeitlang. Es war still, und man hörte nichts anderes als das dumpfe Aufschlagen der Stiefel Handkes gegen die Rippen Westhofs. 509 spürte, wie Bucher sich neben ihm regte. Er packte sein Handgelenk und hielt ihn fest. Buchers Hand zuckte. 509 ließ nicht los. Handke trat stumpfsinnig weiter. Endlich wurde er müde und sprang einige Male auf Westhofs Rücken. Westhof rührte sich nicht. Handke kam zurück. Sein Gesicht war naß von Schweiß.
»Juden!« sagte er. »Wie Läuse drauftreten muß man auf euch. Was seid ihr?«
Er zeigte mit unsicherem Finger auf die Skelette. »Juden«, erwiderte 509.
Handke nickte und sah einige Sekunden lang tiefsinnig auf den Boden. Dann drehte er sich um und ging zu dem Drahtzaun hinüber, der die Frauenbaracken abtrennte. Er stand dort, und man hörte ihn schnaufen. Er war früher Buchdrucker gewesen und wegen Sittlichkeitsverbrechens ins Lager gekommen; seit einem Jahr war er Blockältester. Nach einigen Minuten kam er zurück und stapfte, ohne sich um jemand zu kümmern, die Lagerstraße zurück.
Berger und Karel drehten Westhof um. Er war bewußtlos. »Hat er ihm die Rippen gebrochen?«
fragte Bucher.
»Er hat ihm gegen den Kopf getreten«, erwiderte Karel. »Ich habe es gesehen.«
»Sollen wir ihn hineintragen?«
»Nein«, sagte Berger. »Laßt ihn hier. Er liegt einstweilen besser hier. Drinnen ist zu wenig Platz. Ist noch Wasser da?«
Sie hatten eine Konservendose mit Wasser. Berger öffnete die Jacke Westhofs.
»Sollten wir ihn nicht doch lieber 'reinbringen?« fragte Bucher. »Das Aas kann noch einmal wiederkommen.«
»Er kommt nicht wieder. Ich kenne ihn. Er hat sich jetzt ausgetobt.«
Lebenthal glitt um die Ecke der Baracke. »Ist er tot?«
»Nein. Noch nicht.«
»Er hat ihn getreten«, sagte Berger. »Sonst schlägt er nur. Er muß mehr Schnaps als gewöhnlich gekriegt haben.«
Lebenthal preßte den Arm gegen seine Jacke. »Ich habe Essen.«
»Leise! Sonst hört es die ganze Baracke. Was hast du?«
»Fleisch«, flüsterte Lebenthal. »Für den Zahn.«
»Fleisch?«
»Ja. Viel. Und Brot.«
Er sagte nichts mehr von dem Hasen. Das paßte nicht mehr. Er sah auf die dunkle Gestalt am Boden, neben der Berger kniete. »Vielleicht kann er noch etwas davon essen«, sagte er. »Es ist gekocht.«
Der Nebel war dichter geworden. Bucher stand an dem doppelten Drahtzaun, der die Frauenbaracke abtrennte. »Ruth!« flüsterte er. »Ruth!«
Ein Schatten kam heran. Er starrte hinüber, konnte die Gestalt aber nicht erkennen.
»Ruth«, flüsterte er wieder. »Bist du da?«
»Kannst du mich sehen?« »Ja.«
»Ich habe etwas zu essen. Siehst du meine Hand?« »Ja, ja.«
»Es ist Fleisch. Ich werfe es hinüber. Jetzt.«