Warum tut die Partei da nichts? Die Partei -«
»Ruhig, Selma!«
»Ruhig, Selma! Hörst du es, Freya? Ruhig! Stillgestanden! Ruhig gestorben! Ruhig, Selma, das ist alles, was er weiß!«
»Fünfzigtausend Menschen sind in derselben Situation«, sagte Neubauer müde. »Alle -«
»Fünfzigtausend Menschen gehen mich nichts an. Fünfzigtausend Menschen fragen auch nicht danach, wenn ich krepiere. Spar dir deine Statistik für Parteireden.«
»Mein Gott -«
»Gott! Wo ist Gott? Ihr habt ihn weggejagt! Komm mir nicht mit Gott -«
Warum haue ich ihr nicht eine herunter? dachte Neubauer. Warum bin ich auf einmal so müde? Ich sollte ihr eine 'runterhauen! Scharf auftreten! Energisch!
Hundertdreißigtausend Mark verloren! Und dieses schreiende Weib! Scharf zupacken!
Ja! Retten! Was? Was retten? Wohin?
Er setzte sich auf einen Sessel. Er wußte nicht, daß es ein exquisiter Gobelinfauteuil des 18.
Jahrhunderts aus dem Hause der Komtesse Lambert war – für ihn war es nur ein Sessel, der reich aussah. Deshalb hatte er ihn vor einigen Jahren mit ein paar anderen Stücken von einem Major, der aus Paris kam, gekauft.
»Bring mir eine Flasche Bier, Freya.«
»Bring ihm eine Flasche Champagner, Freya! Er kann ihn trinken, bevor er In die Luft fliegt. Popp!
Popp! Popp! Laßt die Pfropfen knallen! Die Siege müssen begossen werden!«
»Laß das, Selma -«
Seine Tochter ging zur Küche. Die Frau richtete sich auf. »Also – ja oder nein? Kommen wir heute abend zu dir 'rauf oder nicht?«
Neubauer sah auf seine Stiefel. Sie waren voll Asche. Für hundertdreißig-lausend Mark Asche.
»Es würde Gerede geben, wenn wir das jetzt plötzlich machen würden. Nicht, daß es nicht erlaubt ist – aber wir haben es bisher nicht getan. Man würde sagen, ich wollte Vorteile ausnutzen gegen die anderen, die hier unten bleiben müssen. Und oben ist es im Augenblick gefährlicher als hier.
Das Lager wird als nächstes bombardiert werden. Wir haben doch kriegswichtige Betriebe.«
Einiges davon stimmte; aber der eigentliche Grund für seine Weigerung war, daß Neubauer allein bleiben wollte. Dort oben hatte er sein Privatleben, wie er es nannte.
Zeitungen, Kognak, und ab und zu eine Frau, die dreißig Kilo weniger wog als Selma – jemand, der zuhörte, wenn er redete, und der ihn bewunderte als Denker, Mann und zartfühlenden Kavalier. Ein unschuldiges Vergnügen, das nötig war als Entspannung nach dem Kampf ums Dasein.
»Laß sie sagen, was sie wollen!« erklärte Selma. »Du hast dich um deine Familie zu kümmern!«
»Wir können später weiter darüber sprechen. Ich muß jetzt zum Parteibüro. Muß sehen, was dort bestimmt wird. Vielleicht sind schon Vorbereitungen getroffen, die Leute in den Dörfern unterzubringen. Sicherlich alle die, die ihre Wohnungen verloren haben. Aber vielleicht könnt auch ihr -«
»Kein vielleicht! Wenn ich in der Stadt bleibe, werde ich herumrennen und schreien, schreien -«
Freya brachte das Bier. Es war nicht kalt. Neubauer schmeckte es, beherrschte sich und stand auf.
»Ja oder nein?« fragte Selma.
»Ich komme zurück. Dann werden wir darüber reden. Erst muß ich die Bestimmungen kennen.«
»Ja oder nein?«
Neubauer sah Freya hinter ihrer Mutter nicken und ihm ein Zeichen machen, vorläufig beizustimmen.
»Schön – ja«, sagte er verdrießlich.
Selma Neubauer öffnete den Mund. Die Spannung wich aus ihr wie Gas aus einem Ballon. Sie ließ sich vornüber auf das Sofa fallen, das zu dem Fauteuil aus dem 18. Jahrhundert gehörte. Sie war auf einmal nur noch ein Haufen weiches Fleisch, geschüttelt von Schluchzen:»Ich will nicht sterben -ich will nicht – mit all unseren schönen Sachen – nicht jetzt -« Über ihrem zerwühlten Haar blickten die Schäfer und Schäferinnen des Gobelinbezuges mit dem ironischen Lächeln des 18. Jahrhunderts heiter und gleichgültig ins Nichts.
Neubauer betrachtete sie angewidert. Sie hatte es leicht; sie schrie und heulte – aber wer fragte danach, was in ihm vorging? Er mußte alles 'runterschlucken. Zuversichtlich sein; ein Fels im Meer.
Hundertdreißigtausend Mark. Nicht ein mal gefragt hatte sie danach.
»Paß gut auf sie auf«, sagte er kurz zu Freya und ging.
Im Garten hinter dem Hause standen die beiden russischen Gefangenen. Si« arbeiteten noch, obschon es dunkel war. Neubauer hatte das vor ein paar Tagen angeordnet. Er hatte ein Stück rasch umgegraben haben wollen. Er hatte dort Tulpen setzen wollen.
Tulpen und etwas Petersilie, Majoran, Basilikum andere Küchenkräuter. Er liebte Kräuter am Salat und für Soßen. Das war vor ein paar Tagen gewesen. Es war eine Ewigkeit her. Verbrannte Zigarren konnte er jetzt da pflanzen. Zerschmolzenes Blei aus der Zeitung.
Die Gefangenen beugten sich über ihre Spaten, als sie Neubauer kommen sahen. »Was habt ihr zu glotzen?« fragte er. Die Wut brach plötzlich durch. Der Ältere von ihnen antwortete etwas auf russisch.
»Glotzen, habe ich gesagt! Du glotzt jetzt noch, Bolschewistenschwein! Frech sogar!
Freust dich wohl, daß das Privateigentum von ehrlichen Bürgern zerstört wird, was?«
Der Russe erwiderte nichts. »Vorwärts, an die Arbeit, ihr faulen Hunde!«