Eine der Leichen auf den Bahren war die Frau mit dem losen Haar; die andere ein Mann, der aussah, als sei er aus schmutzigem Wachs. Berger hob die Schultern der Frau und schob ihr Haar darunter, damit es nicht durch den Glutwind beim Einschieben aufflammen, zurückfliegen und ihm und den anderen die Hände verbrennen würde. Es war sonderbar, daß es nicht abgeschnitten war; früher geschah das regelmäßig, und das Haar wurde gesammelt. Wahrscheinlich lohnte es nicht mehr; es waren nur noch wenige Frauen im Lager.
»Fertig«, sagte er zu den anderen.
Sie öffneten die Ofentüren. Die Glut strömte heraus. Mit einem Ruck schoben sie die flachen Eisenbahren in das Feuer. »Türen zu!« rief jemand.
»Türen zu!«
Zwei Häftlinge warfen die schweren Türen zu, aber eine flog wieder auf, Berger sah noch, wie die Frau sich aufbäumte, als erwachte sie. Das brennende Haar umflammte einen Augenblick ihren Kopf wie ein wilder weißgelber Heiligenschein, dann schlug die Tür, an deren Kante ein schmales Stück Knochen eingeklemmt gewesen war, zum zweiten Male und ganz zu.
»Was war das?« fragte einer der Häftlinge erschreckt. Er hatte bisher immer nur Leichen ausgekleidet. »Lebte die noch?«
»Nein. Das war die Hitze«, erwiderte Berger krächzend. Der heiße Wind hatte seinen Hals ausgetrocknet. Selbst die Augen schienen verbrannt zu sein.
»Sie bewegen sich immer.« »Sie tanzen manchmal Walzer«, sagte ein kräftiger Mann, der zum Kommando gehörte und vorbeikam. »Was macht ihr eigentlich hier oben, ihr Kellergespenster?«
»Wir sind 'raufgeschickt worden.«
Der Mann lachte. »Wozu? Um auch in den Ofen zu kommen?«
»Unten sind neue Leute«, sagte Berger.
Der Mann hörte auf zu lachen. »Was? Neue? Für was?«
»Das weiß ich nicht. Sechs neue.«
Der Mann starrte Berger an. Seine Augen glänzten sehr weiß in dem schwarzen Gesicht. »Das kann nicht sein! Wir sind erst zwei Monate hier. Sie können uns noch nicht ablösen. Das dürfen sie nicht! Ist es bestimmt wahr?«
»Ja. Sie haben es selbst gesagt.«
»Krieg das 'raus! Kannst du es nicht genau 'rauskriegen?«
»Ich werde es versuchen«, sagte Berger. »Hast du ein Stück Brot? Oder was anderes zu essen?
Ich gebe dir Bescheid.«
Der Mann holte ein Stück Brot aus der Tasche und brach es in zwei Teile. Das kleinere Stück gab er Berger. »Hier. Aber finde es 'raus. Wir müssen das wissen!«
»Ja.« Berger trat zurück. Jemand klopfte ihm von hinten auf die Schulter. Es war der grüne Kapo, der Mosse, Brede und die vier anderen zum Krematorium geführt hatte.
»Bist du der Zahnklempner?«
»Ja.«
»Da ist noch ein Zahn 'rauszuziehen, unten. Du sollst 'runterkommen.«
Der Kapo war sehr blaß. Er schwitzte und lehnte sich gegen die Wand. Berger blickte auf den Mann, der ihm das Brot gegeben hatte, und kniff ein Auge zu. Der Mann folgte ihm zum Ausgang.
»Es ist schon aufgeklärt«, sagte Berger. »Es war keine Ablösung. Sie sind tot. Ich muß 'runter.«
»Sicher?«
»Ja. Ich müßte sonst nicht 'runter.«
»Gott sei Dank.« Der Mann atmete auf. »Gib mir das Brot zurück«, sagte er dann.
»Nein.« Berger steckte die Hand in die Tasche und hielt das Stück fest.
»Schafskopf! Ich will dir nur das größere Stück dafür geben. Das ist die Sache wert.«
Sie tauschten, und Berger ging in den Keller zurück. Steinbrenner und Weber waren fort. Nur Schulte und Dreyer waren noch da. An den vier Haken an der Wand hingen vier Leute. Einer von ihnen war Mosse. Er war aufgehängt worden mit seiner Brille.
Brede und der letzte der sechs lagen bereits am Boden.
»Mach den dort los«, sagte Schulte gleichmütig. »Er hat vorne eine Goldkrone.«
Berger versuchte, den Mann anzuheben. Er konnte es nicht. Erst als Dreyer ihm half, gelang es.
Der Mann fiel wie eine Puppe, die mit Sägemehl ausgefüllt war, zu Boden.
»Ist er das?« fragte Schulte.
»Jawohl.«
Der Tote hatte einen goldenen Eckzahn. Berger zog ihn aus und legte ihn in den Kasten. Dreyer machte eine Notiz.
»Hat noch einer von den anderen was?« fragte Schulte.
Berger untersuchte die beiden Toten am Boden. Der Kapo leuchtete mit der Taschenlampe.
»Diese haben nichts. Zement und Silberamalgamfüllungen bei einem.«
»Das können wir nicht brauchen. Wie ist es bei denen, die noch hängen?«
Berger versuchte vergeblich, Mosse hochzuheben. »Laß das«, erklärte Schulte ungeduldig. »Man kann es besser sehen, wenn sie hängen.«
Berger drückte die geschwollene Zunge in dem weit offenen Mund beiseite. Das eine gequollene Auge hinter dem Brillenglas war dicht vor ihm. Es erschien durch die starke Linse noch größer und verzerrt. Das Lid über der anderen, leeren Augenhöhle stand halb offen. Flüssigkeit war herausgesickert. Die Backe war feucht davon. Der Kapo stand seitlich neben Berger, Schulte direkt hinter ihm. Berger fühlte Schuhes Atem in seinem Nacken. Er roch nach Pfefferminztabletten. »Nichts«, sagte Schulte. »Der nächste.«
Der nächste war leichter zu kontrollieren; er hatte keine Vorderzähne. Sie waren ausgeschlagen.