Berger war auf dem Wege zum Krematorium. Neben ihm marschierte eine Gruppe von sechs Mann. Er kannte einen davon. Es war ein Rechtsanwalt, der Mosse hieß. Er war 1932 an einem Mordprozeß gegen zwei Nazis als Vertreter der Nebenkläger beteiligt gewesen. Die Nazis waren freigesprochen worden, und Mosse war nach der Machtergreifung sofort ins Konzentrationslager gekommen. Berger hatte ihn nicht mehr gesehen, seit er im Kleinen Lager war. Er kannte ihn wieder, weil er eine Brille trug, in der sich nur ein Glas befand. Mosse brauchte kein zweites; er hatte nur ein Auge. Das andere war ihm 1933 als Quittung für den Prozeß mit einer Zigarette ausgebrannt worden. Mosse ging an der Außenseite. »Wohin?« fragte Berger ihn, ohne die Lippen zu bewegen. »Krematorium. Arbeiten.« Die Gruppe marschierte vorbei. Berger sah jetzt, daß er noch einen der Leute kannte: Brede, einen sozialdemokratischen Parteisekretär. Ihm fiel auf, daß alle sechs politische Sträflinge waren. Ein Kapo mit dem grünen Winkel der Kriminellen folgte ihnen. Er pfiff eine Melodie vor sich hin. Berger erinnerte sich, daß es ein Schlager aus einer alten Operette war. Mechanisch kam ihm auch der Text ins Gedächtnis:»Adieu, du kleine Klingelfee, leb wohl, bis ich dich wiederseh'.« Er sah der Gruppe nach. Klingelfee, dachte er irritiert. Es mußte eine Telefonistin damit gemeint gewesen sein. Warum fiel ihm das plötzlich ein? Warum wußte er diese Leierkastenmelodie noch und sogar die blödsinnigen Worte dazu? So viel Wichtigeres war längst vergessen. Er ging langsam und atmete den frischen Morgen. Dieser Gang durchs Arbeitslager war für ihn immer fast wie ein Gang durch einen Park. Fünf Minuten noch bis zur Mauer, die das Krematorium umschloß. Fünf Minuten Wind und früher Tag. Er sah die Gruppe mit Mosse und Brede unter dem Tor verschwinden. Es schien sonderbar, daß neue Leute zum Arbeiten im Krematorium bestimmt worden waren. Das Krematoriumskommando bestand aus einer besonderen Gruppe von Häftlingen, die zusammen wohnten. Sie wurden besser ernährt als die anderen und hatten auch sonst gewisse Vorteile. Dafür wurden sie gewöhnlich nach einigen Monaten abgelöst und zum Vergasen verschickt. Das jetzige Kommando war aber erst zwei Monate da; und Außenseiter wurden nur selten hinzukommandiert. Berger war fast der einzige. Er war anfangs zur Aushilfe für einige Tage hingeschickt worden und hatte dann, als sein Vorgänger starb weitergearbeitet. Er bekam keine bessere Verpflegung und wohnte nicht mit dem eigentlichen Verbrennungskommando zusammen. Deshalb hoffte er, nicht in weiteren zwei oder drei Monaten mit den anderen fortgeschickt zu werden Doch das war nur eine Hoffnung. Er ging durch das Tor und sah jetzt die sechs Mann auf dem Hof in einer Reihe nebeneinanderstehen. Sie standen nicht weit von den Galgen, die in dei Mitte errichtet worden waren. Alle versuchten, die Holzgerüste nicht zu sehen Mosses Gesicht hatte sich verändert. Er starrte mit seinem einen Auge durch das Brillenglas angstvoll auf Berger. Brede hielt den Kopf gesenkt. Der Kapo wendete sich um und erblickte Berger. »Was willst du hier?« »Kommandiert zum Krematorium. Zahnkontrolle.« »Der Zahnklempner. Dann mach, daß du hier fortkommst. Stillgestanden die anderen!« Die sechs Mann standen so still, wie sie konnten. Berger ging dicht an ihnen vorbei. Er hörte Mosse etwas flüstern; aber er verstand es nicht. Er konnte auch nicht stehenbleiben; der Kapo beobachtete ihn. Es ist merkwürdig, dachte er daß ein so kleines Kommando von einem Kapo geführt wird – anstatt von einem Vorarbeiter. Der Keller des Krematoriums hatte an einer Seite einen großen schrägen Schacht, der nach außen führte. Die Leichen, die im Hof aufgestapelt waren, wurden in diesen Schacht geworfen und glitten in den Keller. Dort wurden sie entkleidet, wenn sie nicht schon nackt waren, rubriziert und auf Gold untersucht.