Zeit war plötzlich nichts mehr. Sie zerfloß. Zerfloß nach allen Seiten. Zeitwasser, irgendwohin verspülend, Hügel hinunter. Es war keine Überraschung, als Berger die Uhr aufnahm und sagte:»Eine Stunde zehn Minuten. Heute passiert nichts mehr.
Vielleicht nie, 509. Vielleicht hat er es sich überlegt.«
»Ja«, sagte Rosen.
509 wendete sich um. »Leo, kommen die Mädchen nicht heute abend?«
Lebenthal starrte ihn an. »Daran denkst du jetzt?«
»Ja.«
An was sonst, dachte 509. An alles, was mich wegnimmt von dieser Angst, die die Knochen zu Gelatine schmilzt. »Wir haben Geld«, sagte er. »Ich habe Handke nur zwanzig Mark angeboten.«
»Du hast ihm nur zwanzig Mark angeboten?« fragte Lebenthal ungläubig.
»Ja. Zwanzig oder vierzig war egal. Wenn er will, nimmt er es, fertig, und es ist gleich, ob es zwanzig oder vierzig sind.«
»Und wenn er morgen kommt?«
»Wenn er kommt, kriegt er zwanzig Mark. Wenn er mich gemeldet hat, kommt die SS.
Dann brauche ich das Geld überhaupt nicht.«
»Er hat dich nicht gemeldet«, sagte Rosen. »Sicher nicht. Er wird das Geld nehmen.«
Lebenthal hatte sich gefaßt. »Behalte dein Geld«, erklärte er. »Ich habe genug für heute abend.«
Er sah, daß 509 eine Gebärde machte. »Ich will es nicht haben«, sagte er heftig. »Ich habe genug.
Laß mich in Ruhe.« 509 stand langsam auf. Er hatte, als er saß, das Gefühl gehabt, er könne nie wieder aufstehen und seine Knochen seien wirklich zu Gelatine geworden. Er bewegte sich, seine Arme, seine Beine. Berger folgte ihm. Sie schwiegen eine Zeitlang. »Ephraim«, sagte 509 dann.
»Glaubst du, daß wir je die Angst wieder loswerden können?«
»War es so schlimm?«
»So schlimm wie nur möglich. Schlimmer als sonst.«
»Es war schlimmer, weil du mehr am Leben bist«, sagte Berger.
»Meinst du?«
»Ja. Wir alle haben uns verändert.«
»Vielleicht. Aber werden wir die Angst je in unserem Leben loswerden?«
»Das weiß ich nicht. Diese ja. Es war eine vernünftige Angst. Eine mit Grund. Die andere, die ständige, die KZ-Angst – das weiß ich nicht. Es ist auch egal. Wir müssen einstweilen nur an morgen denken. An morgen und Handke.«
»Daran will ich gerade nicht denken«, sagte 509.
XIII