Es waren vier. Drei waren tot. Einer lebte noch. Sie hoben ihn heraus. Werner suchte nach Hilfe. Er sah die Frau mit der roten Bluse aus dem Toreingang kommen. Sie war nicht zum Luftschutzkeller gelaufen. Behutsam trug sie eine Blechschale mit Wasser und ein Handtuch. Ohne sich um etwas zu kümmern, brachte sie das Wasser an der SS vorbei und stellte es neben den Verletzten. Die SS-Leute blickten sich unschlüssig an, sagten aber nichts. Sie wusch das Gesicht frei. Der Verletzte brach blutigen Schaum. Die Frau wischte ihn weg. Einer der SS-Leute begann zu lachen. Er hatte ein unausgereiftes, zusammengeworfenes Gesicht, mit so hellen Wimpern, daß die blassen Augen nackt erschienen. Das Flakfeuer hörte auf. In der Stille dröhnte wieder das Klavier. Werner sah jetzt, woher es kam; aus einem Fenster im ersten Geschoß des Kolonialwarenladens. Ein blasser Mann mit einer Brille spielte dort an einem aufrechten braunen Klavier immer noch den Chor der Gefangenen. Die SS grinste. Einer tippte sich auf die Stirn. Werner wußte nicht, ob der Mann gespielt hatte, um für sich über das Bombardement hinwegzukommen, oder ob er etwas anderes gewollt hatte. Er entschloß sich, zu glauben, daß es eine Botschaft gewesen sei. Er glaubte immer das Bessere, wenn es ohne Risiko war. Es machte das Dasein einfacher. Leute kamen herangelaufen. Die SS wurde militärisch. Kommandos erschollen. Die Häftlinge formierten sich. Der Zugführer befahl einem SS-Mann, bei den Toten und Verletzten zu bleiben; dann kam der Befehl, im Laufschritt die Straße entlangzurennen. Die letzte Bombe hatte einen Luftschutzkeller getroffen. Die Gefangenen sollten ihn ausgraben. Der Krater stank nach Säuren und Schwefel. Ein paar Bäume standen mit offenen Wurzeln schräg am Rande. Das Gitter der Rasenanlagen starrte losgerissen in den Himmel. Die Bombe hatte den Keller nicht direkt getroffen; sie hatte ihn seitlich eingedrückt und verschüttet. Die Häftlinge arbeiteten über zwei Stunden an dem Eingang. Stufe auf Stufe legten sie die Treppe frei. Sie war schiefgedrückt worden. Alle arbeiteten, so rasch sie konnten; sie arbeiteten, als seien es ihre eigenen Kameraden, die verschüttet waren. Nach einer weiteren Stunde hatten sie den Eingang frei. Sie hörten Schreie und Wimmern lange vorher. Der Keller mußte irgendwoher noch Luft bekommen. Das Schreien schwoll an, als sie die erste Öffnung machten. Ein Kopf schob sich hindurch und schrie, und zwei Hände erschienen direkt unter dem Kopf und kratzten im Schutt, als wollte ein riesiger Maulwurf sich durcharbeiten. »Vorsicht!« schrie ein Vorarbeiter. »Es kann noch einstürzen.« Die Hände arbeiteten weiter. Dann wurde der Kopf von hinten zurückgerissen, und ein anderer erschien schreiend. Auch er wurde weggerissen. Die Leute kämpften drinnen in einer Panik um den Platz am Licht. »Stoßt sie zurück! Sie werden verletzt! Das Loch muß größer gemacht werden. Stoßt sie zurück!« Sie stießen in die Gesichter. Die Gesichter bissen nach ihren Fingern. Sie rissen mit den Picken den Zement los. Sie arbeiteten, als ob es um ihr eigenes Leben ginge. Dann war die Öffnung groß genug, daß der erste hindurchkriechen konnte. Es war ein kräftiger Mann. Lewinsky erkannte ihn sofort. Es war der Mann mit dem Schnurrbart, der im Kolonialwarengeschäft gestanden hatte. Er hatte sich an die erste Stelle gearbeitet und schob und ächzte, um durchzukommen. Sein Bauch blieb stecken. Die Schreie drinnen wurden stärker; er verdunkelte den Keller. Man zerrte an seinen Beinen, um ihn zurückzureißen. »Hilfe!« stöhnte er mit einer hohen, pfeifenden Stimme. »Hilfe! Helft mir 'raus! 'raus hier! 'raus! Ich will euch -ich gebe euch -« Seine kleinen schwarzen Augen quollen aus dem runden Gesicht. Der Hitlerschnurrbart zitterte.
»Hilfe! Meine Herren! Bitte! Meine Herren!« Er wirkte wie ein eingeklammerter Seehund, der sprechen konnte.
Sie packten ihn unter die Arme und bekamen ihn endlich durch. Er fiel, sprang auf und rannte ohne ein Wort davon. Sie preßten ein Brett gegen den Eingang und erweiterten ihn. Dann traten sie zurück.
Die Menschen kletterten hinaus. Frauen, Kinder, Männer – manche eilig, blaß, schwitzend, einem Grabe entkommend, andere hysterisch, schluchzend, schreiend, fluchend -, und dann langsam und schweigend die, die nicht von der Panik gepackt worden waren.
Sie rannten und kletterten an den Gefangenen vorbei.
»Meine Herren«, flüsterte Goldstein. »Habt ihr das gehört? Bitte, meine Herren! Der Mann meinte uns -«
Lewinsky nickte. »Ich gebe euch -«, wiederholte er die Worte des Seehundes. »Gar nichts«, fügte er hinzu. »Abgehauen ist er wie ein Waldaffe.« Er sah Goldstein an.
»Was ist los mit dir?«
Goldstein lehnte sich an ihn. »Zu komisch!« Er konnte kaum noch atmen. »Anstatt – daß sie uns befreien -«, keuchte er,»befreien wir – sie -«
Er kicherte und kippte langsam zur Seite. Sie hielten ihn fest und ließen ihn auf den Erdhaufen gleiten. Dann warteten sie, bis der Bunker leer war.