Der Kapo Dreyer war bereits an seinem Platz im Keller. Berger fühlte, daß etwas in ihm zusammensank, das immer noch geheim auf Aufschub gerechnet hatte. Dreyer war drei Tage nicht dagewesen. Das hatte Berger verhindert, auszuführen, was er sich vorgenommen hatte. Heute gab es keine Ausflucht mehr; er mußte es riskieren. »Fang gleich hier an«, sagte Dreyer mürrisch. »Wir werden sonst kaum fertig. Die krepieren ja neuerdings wie die Fliegen bei euch.«
Die ersten Toten kamen heruntergepoltert. Drei Häftlinge zogen sie aus und sortierten ihre Sachen.
Berger kontrollierte die Zähne; dann packten die drei die Toten in den Auf zug.
Eine halbe Stunde später kam Schulte. Er sah frisch und ausgeschlafen aus, aber er gähnte fortwährend. Dreyer schrieb, und Schulte sah ihm ab und zu über die Schulter.
Der Keller war groß und gelüftet, aber der Geruch der Toten wurde bald sehr stark. Er hing auch in den Kleidern; nicht nur an den nackten Körpern. Die Lawine der Leichen hörte nicht auf; sie schien die Zeit unter sich zu verschütten, und Berger wußte fast nicht mehr, ob es schon Abend war oder erst Mittag, als Schulte endlich aufstand und erklärte, zum Essen zu gehen.
Dreyer legte seine Sachen zusammen. »Um wieviel sind wir dem Verbrennungsraum voraus?«
»Um zweiundzwanzig.«
»Gut. Mittagspause. Sagt denen oben, sie sollen aufhören, herunterzuwerfen, bis ich zurückkomme.«
Die drei anderen Häftlinge gingen sofort hinaus. Berger legte noch einen Toten zurecht. »Los!
Schieb ab!« knurrte Dreyer. Der Pickel auf seiner Oberlippe hatte sich in einen schmerzhaften Furunkel verwandelt.
Berger richtete sich auf. »Wir haben vergessen, diesen hier einzuschreiben.«
»Was?«
»Wir haben vergessen, diesen Toten hier als Abgang aufzuführen.«
»Blödsinn! Wir haben alle notiert.«
»Das ist nicht richtig.« Berger hielt seine Stimme so ruhig, wie er konnte »Wir haben einen Mann zuwenig aufgeschrieben.«
»Mensch!« explodierte Dreyer. »Bist du verrückt geworden? Was soll das Gequatsche?«
»Wir müssen einen Mann mehr auf die Liste setzen.«
»So?« Dreyer sah Berger jetzt scharf an. »Und warum müssen wir das?«
»Damit die Liste stimmt.«
»Kümmere dich nicht um meine Listen.«
»Um die anderen kümmere ich mich nicht. Nur um diese eine.«
»Die anderen? Was für andere gibt es denn, du Gerippe?«
»Die Goldlisten.«
Dreyer schwieg einen Augenblick. »So, und was soll das Ganze nun wirklich heißen?« fragte er dann.
Berger holte Atem. »Das soll heißen, daß es mir egal ist, ob die Goldlisten stimmen oder nicht.«
Dreyer machte eine Bewegung, bezwang sich aber. »Sie stimmen«, sagte er drohend.
»Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Man braucht sie ja nur zu vergleichen.«
»Vergleichen? Womit?«
»Mit meinen eigenen Listen. Ich führe sie, seit ich hier arbeite. Zur Vorsicht.«
»Sieh mal an! Führt auch eine Liste, der Schleicher. Und du denkst, daß man dir mehr glauben würde als mir?«
»Ich halte das für möglich. Ich habe keine Vorteile von meiner Liste.«
Dreyer musterte Berger von oben bis unten, als sähe er ihn zum ersten Male. »So, das hast du nicht? Das glaube ich auch nicht. Und um mir das zu sagen, hast du gerade den richtigen Moment abgewartet, hier im Keller, was? Allein mit mir – das war dein Fehler, du Eierkopf!« Er grinste. Der Furunkel schmerzte. Das Grinsen sah aus, als blecke ein ärgerlicher Hund die Zähne. »Willst du mir mal erzählen, was mich jetzt davon abhalten kann, dir deinen Eierkopf ein bißchen einzuschlagen und dich hier zu den anderen zu legen? Oder dir die Luftröhre einzuklemmen? Du bist dann selber der, der dir in deiner Liste noch fehlt. Erklärungen gibt es da nicht. Wir sind ja allein. Bist eben einfach umgefallen. Herzschwäche. Einer mehr spielt hier keine Rolle. Das wird nicht untersucht.
Ich verbuche dich schon.«
Er kam näher. Er war über sechzig Pfund schwerer als Berger. Berger hatte, selbst mit der Zange in der Hand, nicht die geringste Chance. Er trat einen Schritt zurück und stolperte über den Toten, der hinter ihm lag. Dreyer griff nach seinem Arm und drehte ihm das Handgelenk um. Berger ließ die Zange fallen. »So, das ist besser«, erklärte Dreyer.
Er zog ihn mit einem Ruck näher an sich heran. Sein verzerrtes Gesicht war dicht vor Bergers Augen. Es war rot, und der Furunkel glänzte auf der Lippe mit blauen Rändern. Berger sagte nichts; er bog nur den Kopf so weit zurück wie möglich und straffte das, was ihm an Halsmuskeln geblieben war.
Er sah, wie die rechte Hand Dreyers hochkam. Sein Gehirn klärte sich. Er wußte, was er tun mußte. Es war wenig Zeit; aber zum Glück schien die Hand so langsam hochzukommen wie in einer Zeitlupenaufnahme. »Dieser Fall hier ist mitberechnet«, sagte er rasch. »Er ist aufgeschrieben und von Zeugen unterzeichnet.«
Die Hand stoppte nicht. Sie kam langsam, aber sie kam weiter hoch. »Schwindel«, knurrte Dreyer.
»Willst dich 'rausreden. Du redest nicht mehr lange.«