Читаем Die Vermessung der Welt полностью

Er bemerkte, daß seine Samtmütze abhanden gekommen war; irgend jemand hatte sie ihm abgenommen, und er wußte nicht, ob sich das so gehörte oder man ihn bestohlen hatte. Ein Mann klopfte ihm auf die Schulter, als hätten sie sich seit Jahren gekannt, und womöglich war das auch der Fall. Während ein Uniformierter die Hakken zusammenschlug und ein Brillenträger im Gehrock beteuerte, das sei der größte Moment seines Daseins, spürte er Tränen aufsteigen. Er dachte an seine Mutter.

Plötzlich wurde es still.

Ein dünner, alter Herr mit wächsernem Gesicht und unnatürlich aufrechter Haltung war hereingekommen. Mit kleinen Schritten, scheinbar ohne die Beine zu bewegen, glitt er auf Humboldt zu. Beide streckten die Arme aus, faßten einandet an den Schultern und beugten den Kopf wenige Zentimeter vor, dann trat jeder einen Schritt zurück.

Welche Freude, sagte Humboldt.

In der Tat, sagte der andere.

Die Umstehenden applaudierten. Beide warteten, bis das Klatschen vorbei war, dann wandten sie sich Gauß zu.

Das, sagte Humboldt, sei sein geliebter Bruder, der Minister.

Wisse er, sagte Gauß. Man habe sich vor Jahren in Weimar kennengelernt.

Der Erzieher Preußens, sagte Humboldt, welcher Deutschland seine Universität und der Welt die gültige Theorie der Sprache geschenkt habe.

Einer Welt, sagte der Minister, deren Gestalt niemand anderer als sein Bruder dem Begreifen erschlossen habe. Seine Hand fühlte sich kalt und leblos an, sein Blick war starr wie der einer Puppe. Überhaupt sei er schon lange kein Erzieher mehr. Nur Privatmann und Dichter.

Dichter? Gauß war froh, als er die Hand loslassen konnte.

Er diktiere seinem Sekretär jeden Tag zwischen sieben und halb acht Uhr abends ein Sonett. So halte er es seit zwölf Jahren, und das werde er fortführen bis zu seinem Ableben.

Gauß fragte, ob es gute Sonette seien.

Er sei zuversichtlich, sagte der Minister. Nun aber müsse er aufbrechen.

Sehr bedauerlich, sagte Humboldt.

Allerdings, sagte der Minister, ein wunderbarer Abend, ein großes Vergnügen.

Die beiden streckten die Arme aus und wiederholten das Ritual von vorhin. Der Minister drehte sich zur Tür” und ging mit wohlgesetzt kleinen Schritten hinaus.

Eine unverhoffte Freude, wiederholte Humboldt. Plötzlich sah er bedrückt aus.

Er wolle heim, sagte Gauß.

Ein wenig noch, sagte Humboldt. Das sei Gendarmeriekommandant Vogt, dem die Wissenschaft viel verdanke. Er plane, alle Berliner Gendarmen mit Kompassen auszustatten. So könne man neue Daten über die Feldfluktuation in der Hauptstadt sammeln. Der Gendarmeriekommandant war zwei Meter groß, hatte den Schnurrbart eines Seehundes, und sein Händedruck war fürchterlich. Und das hier, fuhr Humboldt fort, sei der Zoologe Malzacher, das der Chemiker Rotter, das der Physiker Weber aus Halle mit seiner Gattin.

Erfreut, sagte Gauß, erfreut. Er war nahe am Losweinen. Immerhin, die junge Frau hatte ein kleines, wohlgeformtes Gesicht, dunkle Augen und ein tief ausgeschnittenes Kleid. Er heftete den Blick auf sie in der Hoffnung, daß ihn das aufheitern werde.

Er sei Experimentalphysiker, sagte Weber. Den elektrischen Kräften auf der Spur. Sie versuchten sich zu verbergen, aber er gebe ihnen keine Chance.

So habe er es auch gemacht, sagte Gauß, ohne die Augen von der hübschen Frau zu wenden. Mit den Zahlen. Vor langer Zeit.

Das wisse er, sagte Weber. Er habe die Disquisitiones genauer studiert als die Bibel. Welche er allerdings nicht sehr genau studiert habe.

Die Frau hatte zarte, sehr geschwungene Brauen. Ihr Kleid ließ die Schultern nackt. Gauß fragte sich, wie es wäre, seine Lippen auf diese Schultern zu drücken.

Er träume davon, hörte er Doktor Weber aus Halle weitersprechen, daß sich einmal ein Geist wie der des Herrn Professor, also nicht ein speziell mathematischer, sondern ein universeller, der Probleme löse, wo immer sie sich darböten, der experimentellen Welterkundung widmen möge. Er habe so viele Fragen. Es sei sein größter Wunsch, sie Professor Gauß vorzutragen.

Er habe wenig Zeit, sagte Gauß.

Das möge sein, sagte Weber. Aber in aller Bescheidenheit, es sei nötig, und er sei nicht irgendwer.

Gauß sah ihn zum erstenmal an. Vor ihm stand ein junger Mann mit schmalem Gesicht und hellen Augen.

Er müsse das sagen, erklärte Weber lächelnd, um der Sache willen. Er habe die Wellenbewegungen elektrischer Felder studiert. Seine Schriften würden weithin gelesen.

Gauß fragte nach seinem Alter.

Vierundzwanzig. Weber wurde rot.

Eine schöne Frau haben Sie, sagte Gauß.

Weber dankte. Seine Frau machte einen Knicks, aber sie sah nicht verlegen aus.

Ihre Eltern sind stolz auf Sie?

Er vermute es, sagte Weber.

Er solle ihn morgen nachmittag besuchen, sagte Gauß. Eine Stunde bekomme er, dann müsse er sich trollen.

Das werde reichen, sagte Weber.

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