Mit halbgeschlossenen Augen sprach Humboldt von Sternen und Strömen. Seine Stimme war leise, aber im ganzen Saal zu hören. Er stand vor der riesigen Kulisse eines Nachthimmels, auf dem sich Sterne zu konzentrischen Kreisen ordneten: Schinkels Bühnenbild zur Zauberflöte, für diesen Anlaß noch einmal aufgespannt. Zwischen die Sterne hatte man die Namen deutscher Forscher geschrieben: Buch, Savigny, Hufeland, Bessel, Klaproth, Humboldt und Gauß. Der Saal war gefüllt bis zum letzten Platz: Monokel und Brillen, sehr viele Uniformen, sanft bewegte Fächer, sowie, in der Zentrumsloge, die reglosen Gestalten des Kronprinzen und seiner Frau. Gauß saß in der ersten Reihe.
Ach was, flüsterte ihm der gutgelaunte Daguerre ins Ohr, das werde noch Jahre dauern, bis er ein Bild machen könne. Zwar werde es mit der Belichtung irgendwann schon hinkommen, aber er und sein Kompagnon Niepce hätten nicht die geringste Idee, wie man das Silberjodid fixieren solle.
Gauß zischte, Daguerre zuckte die Achseln und verstummte.
Wer in den Nachthimmel sehe, sagte Humboldt, ma-che sich keine rechte Vorstellung von den Erstreckungen dieses Gewölbes. Der Lichtnebel der Magellanschen Wolken über der südlichen Hemisphäre sei keine amorphe Substanz, kein Dunst oder Gas, sondern bestehe aus Sonnen, welche bloß die schiere Entfernung optisch in eins fließen lasse. Ein Milchstraßenabschnitt von zwei Grad Breite und fünfzehn Grad Länge, wie ihn das Okular eines Fernrohres erfasse, enthalte mehr als fünfzigtausend zählbare Sterne und wohl an die einhunderttausend, die man ob ihrer Lichtschwäche nicht mehr unterscheiden könne. Somit bestehe die Milchstraße aus zwanzig Millionen Sonnen, die ein von ihr um einen Durchmesser ihrer selbst entferntes Auge allerdings nur mehr als matten Schimmer wahrnehmen würde, als einen jener Nebelflecke, von denen die Astronomen mehr als dreitausend gezählt hätten. Man frage sich also, warum bei so viel Sternen nicht der ganze Himmel ständig von Licht erfüllt, wieso da draußen so viel Schwärze sei, und komme nicht umhin, ein der Helligkeit entgegengesetztes Prinzip, etwas Hemmendes in den Zwischenräumen, einen lichtlöschenden Äther anzunehmen. Einmal mehr beweise sich so die vernünftige Einrichtung der Natur, denn schließlich hebe jede menschliche Kultur mit der Beobachtung der Bahnen der Himmelskörper an.
Humboldt öffnete zum erstenmal weit die Augen. Einer dieser im schwarzen Äther schwimmenden Kör-per sei die Erde. Ein Feuerkern, umschlossen von einer starren, einer tropfbar flüssigen und einer elastisch flüssigen Hülle, welche alle drei dem Leben Heimat böten. Selbst in unterirdischen Tiefen habe er lichtlos wuchern – des Pflanzenzeug gefunden. Dem Feuerkern der Erde dienten die Vulkane als natürliche Ventile, die steinerne Kruste wiederum sei von zwei Meeren bedeckt, ei-nem aus Wasser und einem aus Luft. Durch beide laufe ein beständiges Strömen: etwa jener berühmte Strom des Golfs, welcher die Wasser des atlantischen Meeres über die Landenge von Nicaragua und Yucatan treibe, dann durch den Kanal von Bahama nordöstlich gegen die Bank von Neurundland und von dort südöstlich zu den Azoren, worin man auch die Ursache für die wunderliche Erscheinung von Palmenfrüchten, fliegenden Fischen und manchmal sogar lebenden Eskimos in ih-ren Paddelbooten zu sehen habe, die man immer wieder an der irischen Küste antreffe. Er selbst habe im stillen Meer einen nicht minder wichtigen Strom entdeckt, der längs Chile und Peru das kalte Nordwasser an die Wendekreise führe. All sein Bitten, er lächelte halb eitel und halb verlegen, habe den Seeleuten nicht austreiben können, ihn den Humboldtstrom zu nennen. Ähnlich bewirkten die Ströme des Luftozeans, in Bewegung gehalten von den Schwankungen der Sonnenwärme und gebrochen an den Schräghängen der großen Steinmassive, daß die Verteilung der Gewächsarten nicht den Breitengraden, sondern isothermisch geschwungenen Linien folge. Dieses System der Ströme verbinde die Erdteile zur wirkenden Einheit. Humboldt schwieg einen Moment, als ob der kommende Gedanke ihn rührte. Wie in den Erdhöhlungen, so auch im Meer, so auch an der Luft: Überall gediehen Pflanzen. Vegetation, das sei die offen liegende, die in stumme Reglosigkeit aufgefaltete Spiel-art des Lebens. Pflanzen besäßen keine Innerlichkeit, nichts Verstecktes, alles an ihnen sei Außen. Ausgesetzt und wenig geschützt, an die Erde und deren Bedingungen gefesselt, lebten sie doch und überdauerten. Insekten hingegen und Tiere und Menschen seien geschützt und gepanzert. Die konstante Temperatur ihres Inneren setze sie instand, wechselnde Bedingungen zu ertragen. Wer ein Tier ansehe, wisse noch nichts, während das Gewächs jedem Blick sein Wesen offenbare.
Jetzt werde er sentimental, flüsterte Daguerre.