Den Burschen, sagte der Bärtige, dürfe nichts beugen. Die Stirn dem Freund, die Brust dem Feind. Was das Volk bedränge, sei nicht Feindeskraft, sondern eigene Schwäche. Eingeschnürt sei es. Er schlug sich mit der flachen Hand auf die Brust. Könne nicht atmen, kön-ne sich nicht rühren, wisse nicht, wohin mit ureigenem Willen und braver Frömmigkeit. Fürst, Franzose und Pfaffe hielten es in Bann, in welscher Verzärtelung und Verlullung, im Daumenlutschschlaf. Burschentum aber, das sei: Zusammenstehen, keusch und fromm. Denken! Er ballte die Faust und klopfte sich an die Stirn. Ein Denken, dessen heiliges Eintrachtsband kein Teufel zerreißen könne. Endlich werde es doch zur wahren deutschen Kirche fuhren und das Sein bezwingen. Was aber heiße das, Burschen? Er streckte die Arme aus, ging langsam in die Knie und richtete sich wieder auf. Das heiße, den Körper fassen, den Körper schulen, durch Aufschwung, Abschwung, Klimmzug und Reckbeuge, bis der Kerl ein ganzer sei. Aber wo stehe man heute? Gerade erst, verborgen reisend, sei er Zeuge geworden, wie ein Greis und ein Student, ein deutscher Vater und sein Sohn, zwei treue Männer, polizeischikaniert worden seien, weil sie kein Papierzeug bei sich gehabt hatten. Beherzt habe er eingegriffen, wie ein Deutscher es müsse, habe gottlob den Tyrannenbüttel überwältigt. Täglich begegne man dem Unrecht, allenthalben und überall, wer solle ihm wehren, wenn nicht gute Burschen, die Alkohol und Weib entsagt und sich der Kraft gewidmet hätten, die Deutschlands Mönche seien, frisch und fromm, fröhlich und frei? Den Franzmann habe man vertrieben, nun sei der Fürst an der Reihe, die Unheilige Allianz werde nicht lange mehr stehen, die Philosophie habe die Wirklichkeit zu packen und durchzuwalken, Herrschartszeit noch einmal! Er hieb auf das Pult, und Eugen hörte sich und die anderen Hurra rufen. Der Bärtige stand ruhig und’ hoch aufgereckt, die stechenden Augen in die Menge gerichtet. Plötzlich änderte sich seine Miene, und er wich zurück.
Eugen spürte einen Luftzug. Das Geschrei erstarb. Fünf Männer waren hereingekommen: ein kleiner Alter und vier Gendarmen.
Großer Gott, sagte Eugens Nebenmann. Der Pedell!
Er habe es ja gewußt, sagte der alte Mann zu den Gendarmen. Man habe nur beobachten müssen, wie sie alle in Zweiergruppen losmarschiert seien. Zum Glück seien die so dumm.
Drei Gendarmen blieben vor den Stufen stehen, einer ging auf das Rednerpult zu. Der Bärtige sah plötzlich viel schmaler und auch nicht mehr groß aus. Er hob die Hand über den Kopf, aber die drohende Geste mißlang, und schon trug er Handschellen.
Er werde nicht weichen, rief er, während der Polizist ihn zu den Stiegen führte, dem Zwang nicht und keiner Bitte. Die wackeren Burschen würden es nicht erlauben. Dies sei der Moment, da der Sturm beginne. Dann, während er die Stufen hinaufgeschoben wurde: Es sei alles ein Mißverständnis, er könne es erklären. Dann war er schon hinaus.
Er hole Verstärkung, sagte der Pedell und stieg eilig die Treppe hoch.
Keine Gespräche, sagte einer der Gendarmen. Kein Wort, von keinem zu keinem. Sonst gebe es unglaublich was auf den Schädel.
Eugen begann zu weinen.
Er war nicht der einzige. Mehrere junge Männer schluchzten hemmungslos. Ein paar, die aufgesprungen waren, setzten sich wieder. Fünfzig Studenten mit Knotenstöcken, dachte Eugen, und drei Polizisten. Ei-ner mußte angreifen, dann würden die anderen folgen. Und wenn das nun er wäre? Er konnte es tun. Ein paar Sekunden stellte er es sich vor. Dann wußte er, daß er zu feige war. Er wischte sich die Tränen weg und blieb schweigend sitzen, bis der Pedell mit zwanzig Gendarmen, befehligt von einem großen Offizier mit Seehundschnurrbart, zurückkam.
Mitnehmen, befahl der Offizier, im Kotter erste Vernehmung, um den Stand festzustellen, morgen Übergabe an die Zuständigen!
Ein schmächtiger Junge fiel vor ihm auf die Knie, umklammerte seine Stiefel und bettelte um Milde. Der Offizier sah peinlich berührt an die Decke, ein Gendarm zerrte den Jungen fort. Eugen benützte den Moment, um eine Seite aus seinem Notizbuch zu reißen und eine Nachricht an seinen Vater zu schreiben. Bevor ihm Handschellen angelegt wurden, konnte er den Zettel zusammenknüllen und in der Faust verstecken.
Auf der Straße warteten Polizeifuhrwerke. Die Festgenommenen saßen zusammengedrängt auf langen Bänken, hinter ihnen standen Gendarmen. Zufällig kam Eugen schräg gegenüber vom dumpf vor sich hin starrenden Bärtigen zu sitzen.
Sollen wir ausbrechen, flüsterte ein Student.
Das sei ein Mißverständnis, antwortete der Bärtige, er heiße Kösselrieder und komme aus Schlesien, er sei da in etwas hineingeraten. Ein Gendarm schlug ihm mit seinem Eisenstock auf die Schulter, leise brummend sank er in sich zusammen.
Noch jemand, fragte der Gendarm.
Keiner rührte sich. Die Türen schlossen sich knallend, und sie fuhren los.
Der Aether