Er arbeite an einem Katalog von Pflanzen-und Naturmerkmalen, an welche sich zu halten man die Maler gesetzlich verpflichten müsse. Ähnliches sei für die dramatische Dichtung zu empfehlen. Er denke an Listen der Eigenschaften wichtiger Persönlichkeiten, von denen abzuweichen dann nicht mehr in der Freiheit eines Autors liegen dürfe. Falls Herrn Daguerres Erfindung eines Tages zur Perfektion komme, würden die Künste ohnehin überflüssig.
Der da schreibe Gedichte. Gauß wies mit dem Kinn auf Eugen.
Tatsächlich, fragte Humboldt.
Eugen wurde rot.
Gedichte und dummes Zeug, sagte Gauß. Schon seit der Kindheit. Er zeige sie nicht vor, aber manchmal sei er so blöd, die Zettel herumliegen zu lassen. Ein mieser Wissenschaftler sei er, aber als Literat noch übler.
Sie hätten Glück mit dem Wetter, sagte Humboldt. Letzten Monat habe es viel geregnet. Jetzt könne man auf einen schönen Herbst hoffen.
Der lasse sich nämlich aushalten. Sein Bruder sei wenigstens beim Militär. Der da habe nichts gelernt, könne nichts. Aber Gedichte!
Er studiere die Rechte, sagte Eugen leise. Und dazu Mathematik!
Und wie, sagte Gauß. Ein Mathematiker, der eine Differentialgleichung erst erkenne, wenn sie ihn in den Fuß beiße. Daß ein Studium allein nichts zähle, wisse jeder: Jahrzehntelang habe er in die blöden Gesichter junger Leute starren müssen. Von seinem eigenen Sohn habe er Besseres erwartet. Warum ausgerechnet Mathematik?
Er habe es ja nicht gewollt, sagte Eugen. Er sei gezwungen worden!
Ach, und von wem?
Der Wechsel von Wetter und Jahreszeiten, sagte Humboldt, mache die eigentliche Schönheit dieser Breiten aus. Der Vielfältigkeit der tropischen Flora stehe in Europa das jährliche Schauspiel einer wiedererwachenden Schöpfung gegenüber.
Von wem wohl, rief Eugen. Wer habe denn einen Gehilfen für die Vermessung gebraucht?
Ein grandioser Gehilfe. Meilen um Meilen habe er zweimal messen müssen wegen all der Fehler.
Fehler in der fünften Nachkommastelle! Die hätten keinerlei Auswirkungen, die seien völlig gleichgültig.
Einen Moment, sagte Humboldt. Meßfehler seien nie gleichgültig.
Und der zerbrochene Heliotrop, fragte Gauß. Der sei dann auch egal?
Messen sei eine hohe Kunst, sagte Humboldt. Eine Verantwortung, die man nicht leichtnehmen dürfe.
Eigentlich sogar zwei Heliotropen, sagte Gauß. Den anderen habe zwar er fallen gelassen, aber nur weil ein Tölpel ihn auf den falschen Waldweg geführt habe.
Eugen sprang auf, griff nach seinem Knotenstock und der roten Mütze und lief hinaus. Die Wohnungstür knallte hinter ihm ins Schloß.
Das habe man davon, sagte Gauß. Dankbarkeit sei zu einem Fremdwort geworden.
Natürlich sei es nicht einfach mit jungen Menschen, sagte Humboldt. Aber man dürfe auch nicht zu streng sein, manchmal helfe etwas Ermutigung mehr als jeder Vorwurf.
Wo nichts sei, könne nichts werden. Und was den Magnetismus betreffe, so sei die Frage falsch gestellt: Es gehe nicht darum, wie viele Magneten es im Erdinneren gebe. So oder so erhalte man zwei Pole und ein Feld, das man durch die Stärke der Magnetkraft und den Inklinationswinkel der Nadel beschreiben könne.
Er habe immer eine Inklinationsnadel mitgeführt, sagte Humboldt. So habe er mehr als zehntausend Ergebnisse gesammelt.
Herr im Himmel, sagte Gauß. Schleppen reiche nicht, man müsse auch denken. Die horizontale Komponente der Magnetkraft lasse sich als Funktion der geographischen Breite und Länge darstellen. Die vertikale Komponente entwickle man am besten in einer Potenzreihe nach dem reziproken Erdradius. Einfache Kugelfunktionen. Er lachte leise.
Kugelfunktionen. Humboldt lächelte. Er hatte kein Wort verstanden.
Er sei aus der Übung, sagte Gauß. Mit zwanzig habe er keinen Tag für solche Kindereien gebraucht, heute müsse er sich eine Woche ausbitten. Er tippte sich an die Stirn. Das hier spiele nicht mehr mit wie früher. Er wünschte, er hätte damals Curare getrunken. Das Menschenhirn sterbe jeden Tag ein wenig ab.
Man könne soviel Curare trinken, wie man wolle, sagte Humboldt. Man müsse es in den Blutstrom träufeln, damit es töte.
Gauß starrte ihn an. Sicher?
Natürlich sei er sicher, sagte Humboldt indigniert. Er habe das Zeug praktisch entdeckt.
Gauß schwieg einen Moment. Was, fragte er dann, sei denn nun wirklich mit diesem Bonpland passiert?
Es werde Zeit! Humboldt stand auf. Die Versammlung warte nicht. Nach seiner Eröffnungsansprache gebe es einen kleinen Empfang für den Ehrengast. Hausarrest!
Wie bitte?