Konsterniert schnippte Humboldt mit den Fingern. Es war früher Nachmittag, und der Professor hatte sechzehn Stunden Schlaf hinter sich. Humboldt dagegen war wie jeden Tag um fünf Uhr morgens aufgestanden, hat-te nicht gefrühstückt, sondern ein paar Versuche über die Fluktuation des Erdmagnetfelds gemacht, dann ein Memorandum über Kosten und möglichen Nutzen ei-ner Robbenzucht in Warnemünde diktiert, vier Briefe an zwei Akademien aufgesetzt, mit Daguerre über das offenbar unlösbare Problem der chemischen Bildfixierung auf Kupferplatten diskutiert, zwei Tassen Kaffee getrunken, sich zehn Minuten ausgeruht und drei Kapitel seines Reisewerkes mit Fußnoten zur Kordillerenflora versehen. Er hatte mit dem Sekretär der Naturforschergesellschaft über den Ablauf des für den Abend geplanten Empfangs gesprochen, für den neuen mexikanischen Premierminister eine kleine Denkschrift über die Abpumpung von Grubenwasser geschrieben und die Fragebriefe zweier Biographen beantwortet. Dann war Gauß, schläfrig und schlecht gelaunt, aus dem Gästezimmer gekommen und hatte nach Frühstück verlangt.
Was Berlin betreffe, sagte Humboldt, so habe er kaum eine Wahl gehabt. Nach langen Jahren in Paris sei ihm … Er strich seine weißen Haare aus dem Gesicht, holte ein Taschentuch hervor, schneuzte sich leise, faltete es und strich es glatt, bevor er es zurück in die Tasche schob. Wie solle er das nun sagen?
Das Geld ausgegangen?
Eine zu drastische Formulierung. Aber die Dokumentation der Reise habe seine Mittel mehr oder minder aufgebraucht. Vierunddreißig Bände. All die Tafeln und
Stiche, die Karten und Illustrationen. Und das in Kriegszeiten, bei Materialknappheit und stark erhöhten Löhnen. Er habe ganz allein eine Akademie sein müssen. Und so sei er nun eben Kammerherr, speise bei Hof und sehe täglich den König. Es gebe Schlimmeres.
Offenbar, sagte Gauß.
Immerhin schätze Friedrich Wilhelm die Forschung! Napoleon habe ihn und Bonpland immer gehaßt, weil dreihundert seiner Wissenschaftler in Ägypten weniger ausgerichtet hätten als sie beide in Südamerika. Nach ihrer Rückkehr seien sie monatelang Stadtgespräch gewesen. Napoleon sei das gar nicht recht gewesen. Du-prés habe einige sehr schöne Reminiszenzen dieser Zeit in
Eugen fragte, was aus Herrn Bonpland geworden sei. Man sah ihm an, daß er nicht gut geschlafen hatte. Gemeinsam mit zwei Dienstboten hatte er in einer stickigen Kammer im Nebenhaus übernachten müssen. Er hatte nicht gewußt, daß Menschen so laut schnarchen konnten.
Bei seiner einzigen Audienz, erzählte Humboldt, habe der Kaiser ihn gefragt, ob er Pflanzen sammle. Er habe bejaht, der Kaiser habe gesagt, ganz wie seine Frau, und sich brüsk abgewandt.
Seinetwegen, sagte Gauß, habe Bonaparte auf den Beschuß Göttingens verzichtet.
Das habe er gehört, sagte Humboldt, aber er bezweifle das, es habe wohl eher strategische Gründe gehabt. Wie auch immer, später habe Napoleon ihn als preußischen Spion aus dem Land weisen wollen. Die gesamte Akademie habe sich zusammentun müssen, um es zu verhindern. Dabei habe er niemanden – Humboldt warf dem Sekretär einen Blick zu, der schlug sofort den Schreibblock auf –, dabei habe er niemanden aushorchen wollen außer der Natur, habe keine anderen Geheimnisse gesucht als die so offen liegenden Wahrheiten der Schöpfung.
Offen liegenden Wahrheiten der Schöpfung, wiederholte der Sekretär mit gespitzten Lippen.
Die
Der Sekretär nickte. Der Diener brachte ein Tablett mit silbernen Täßchen.
Aber Bonpland, wiederholte Eugen.
Eine schlimme Sache. Humboldt seufzte. Eine sehr traurige Geschichte. Aber hier sei nun endlich der Tee – ein Geschenk des Zaren, dessen Finanzminister ihn wiederholt nach Rußland eingeladen habe. Natürlich habe er abgesagt, aus politischen Gründen wie auch, es verstehe sich von selbst, seines Alters wegen.
Richtig entschieden, sagte Eugen. Die schlimmste Despotie der Welt! Er wurde rot vor Schreck über sich selbst.
Gauß bückte sich, hob ächzend den Knotenstock auf, zielte und stieß unter dem Tisch nach Eugens Fuß. Er verfehlte und stieß noch einmal. Eugen zuckte zusammen.