»Komm, trink noch etwas«, sagte ich und hielt sie fest.»Es ist nur immer der erste Moment, dann wird es schon besser.«
Sie nickte.»Ja, Robby. Du mußt dich auch gar nicht darum kümmern. Es ist gleich vorbei, und es ist besser, wenn du es gar nicht siehst. Laß mich nur ein paar Minuten hier allein sitzen, dann werde ich schon damit fertig.«
»Warum denn? Du warst den ganzen Tag so tapfer, da kannst du jetzt ruhig so viel weinen, wie du willst.«
»Ich war gar nicht tapfer. Du hast es nur nicht gemerkt.«
»Vielleicht«, sagte ich,»aber das war es dann gerade.«
Sie versuchte zu lächeln.»Warum denn eigentlich, Robby?«
»Weil man sich nicht ergibt.«Ich strich ihr über das Haar.»Solange man sich nicht ergibt, ist man mehr als das Schicksal.«
»Bei mir ist es kein Mut, Liebling«, murmelte sie.»Bei mir ist es einfach nur Angst. Jämmerliche Angst vor der großen, letzten Angst.«
»Das ist alles Mut, Pat.«
Sie lehnte sich an mich.»Ach, Robby, du weißt ja gar nicht, was Angst ist.«
»Doch«, sagte ich.
Die Tür ging auf. Der Schaffner verlangte die Fahrkarten.
Ich gab sie ihm.»Ist die Schlafwagenkarte für die Dame?«fragte er.
Ich nickte.
»Dann müssen Sie in den Schlafwagen gehen«, sagte er zu Pat.»Die Karte gilt nicht für die übrigen Abteile.«
»Gut.«
»Und der Hund muß in den Packwagen«, erklärte er.»Das Hundeabteil ist im Packwagen.«
»Schön«, sagte ich.»Wo ist denn der Schlafwagen?«
»Rechts der dritte Wagen. Der Packwagen ist ganz vorn.«
Er ging. Auf seiner Brust baumelte eine kleine Laterne.
Das sah aus, als ginge er durch die Schächte eines Bergwerks.
»Dann wollen wir mal umziehen, Pat«, sagte ich.»Billy schmuggle ich schon zu dir 'rein. Der hat im Packwagen nichts zu suchen.«
Ich hatte für mich keinen Schlafwagenplatz genommen. Es machte mir nichts, in einer Abteilecke die Nacht zu verbringen. Außerdem war es billiger.
Jupp hatte Pats Gepäck schon in den Schlafwagen gebracht. Das Abteil war ein hübscher, kleiner, mit Mahagoniholz getäfelter Raum. Pat hatte das untere Bett. Ich fragte den Schaffner, ob auch das obere belegt sei.
»Ja«, sagte er,»ab Frankfurt.«
»Wann sind wir in Frankfurt?«
»Um halb drei.«
Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er ging in seine Wagenecke zurück.
»In einer halben Stunde bin ich mit dem Hund wieder bei dir«, sagte ich zu Pat.
»Aber das geht doch nicht; der Schaffner bleibt ja im Wagen.«
»Es geht schon. Schließ nur deine Tür nicht ab.«
Ich ging zurück, an dem Schaffner vorbei, der mich ansah. Auf der nächsten Station stieg ich mit dem Hund aus und ging über den Bahnsteig am Schlafwagen vorbei bis zum nächsten Wagen. Hier wartete ich, bis der Schaffner ausstieg, um mit dem Zugführer zu schwätzen. Dann stieg ich wieder ein, ging durch den Wagen bis zu den Schlafwagenabteilen und kam zu Pat, ohne daß mich jemand gesehen hatte. Sie trug einen weichen weißen Mantel und sah wunderschön aus. Ihre Augen glänzten.»Ich bin jetzt ganz darüber weg, Robby«, sagte sie.
»Das ist gut. Aber willst du dich nicht zu Bett legen? Es ist mächtig knapp hier. Ich setze mich dann zu dir.«
»Ja, aber…«, sie zögerte und zeigte auf das obere Bett.»Wenn nun die Vorsteherin des Vereins für gefallene Mädchen plötzlich in der Tür steht…«
»Bis Frankfurt ist's noch lange«, sagte ich.»Ich passe schon auf. Ich schlafe nicht ein.«
Kurz vor Frankfurt ging ich in mein Abteil zurück. Ich setzte mich in die Fensterecke und versuchte zu schlafen. Aber in Frankfurt stieg ein Mann mit einem Seehundsbart ein, der sofort einen Koffer auspackte und zu essen begann. Er aß so intensiv, daß ich nicht zum Schlafen kam. Die Mahlzeit dauerte fast eine Stunde. Dann wischte der Seehund sich den Bart, legte sich lang und begann ein Konzert, wie ich es nie vorher gehört hatte. Es war kein einfaches Schnarchen; es war ein heulendes Seufzen, unterbrochen von stoßweisem Stöhnen und langgezogenem Blubbern. Ich konnte kein System darin entdecken, so vielfältig war es. Zum Glück stieg der Mann um halb sechs Uhr aus.
Als ich aufwachte, war draußen alles weiß. Es schneite in großen Flocken, und das Abteil war in ein seltsam unwirkliches Zwielicht getaucht. Wir fuhren schon durchs Gebirge. Es war fast neun Uhr. Ich dehnte mich und ging mich waschen und rasieren. Als ich zurückkam, stand Pat im Abteil. Sie sah frisch aus.»Hast du gut geschlafen?«fragte ich.
Sie nickte.
»Und wie war die alte Spiritistin in deinem Abteil?«
»Jung und hübsch. Sie heißt Helga Guttmann und fährt ins selbe Sanatorium wie ich.«
»Tatsächlich?«
»Ja, Robby. Aber du hast schlecht geschlafen, das sieht man. Du mußt ein ordentliches Frühstück haben.«
»Kaffee«, sagte ich.»Kaffee mit etwas Kirsch.«
Wir gingen zum Speisewagen. Ich war plötzlich guter Stimmung. Es schien alles nicht mehr so schlimm wie am Abend vorher.
Helga Guttmann saß schon da. Sie war ein schlankes, lebhaftes Mädchen von südlichem Typ.»Merkwürdig«, sagte ich,»daß sich das so getroffen hat mit demselben Sanatorium.«
»Gar nicht so merkwürdig«, erwiderte sie.