Ich sah sie an. Sie lachte.»Um diese Zeit sammeln sich doch die Zugvögel alle wieder. Drüben…«, sie zeigte in die Ecke des Speisewagens,»der ganze Tisch dort fährt auch hin.«
»Woher wissen Sie das?«fragte ich.
»Ich kenne sie alle vom vorigen Jahr. Da oben kennt doch jeder den andern.«
Der Kellner kam und brachte den Kaffee.»Bringen Sie mir noch einen großen Kirsch dazu«, sagte ich. Ich mußte etwas trinken. Es war auf einmal alles so einfach. Da saßen Leute und fuhren zum Sanatorium, zum zweitenmal sogar, und es schien ihnen nicht viel mehr als eine Spazierfahrt zu sein. Es war dumm, so viel Angst zu haben. Pat würde zurückkommen, wie alle diese Leute zurückgekommen waren. Ich dachte nicht daran, daß alle diese Leute jetzt auch wieder hinfuhren – es war genug zu wissen, daß man zurückkam und wieder ein ganzes Jahr vor sich hatte. In einem Jahr konnte viel passieren. Unsere Vergangenheit hatte uns gelehrt, kurzfristig zu denken.
Wir kamen spätnachmittags an. Es war ganz klar geworden, die Sonne schien golden auf die Schneefelder, und der Himmel war so blau, wie wir ihn seit Wochen nicht mehr gesehen hatten. Am Bahnhof wartete eine Menge Leute. Sie grüßten und winkten, und aus dem Zuge winkten die Ankommenden zurück. Helga Guttmann wurde von einer lachenden blonden Frau und zwei Männern in hellen Knickerbockern in Empfang genommen. Sie war ganz aufgeregt und wirbelig, so als wäre sie nach langer Abwesenheit nach Hause gekommen.»Auf Wiedersehen, nachher, oben!«rief sie uns zu und bestieg mit ihren Freunden einen Schlitten.
Die Leute zerstreuten sich rasch, und wir standen ein paar Minuten später allein auf dem Bahnsteig. Ein Gepäckträger trat zu uns heran.
»Welches Hotel?«fragte er.
»Sanatorium Waldfrieden«, erwiderte ich.
Er nickte und winkte einem Kutscher. Die beiden verstauten die Koffer in einem hellblauen Schlitten, der mit zwei Schimmeln bespannt war. Die Pferde hatten bunte Federbüschel auf den Köpfen, und der Dampf ihres Atems umwehte ihre Mäuler wie perlmutterfarbenes Gewölk.
Wir stiegen ein.»Wollen Sie zur Drahtseilbahn oder mit dem Schlitten 'rauf?«fragte der Kutscher.
»Wie weit ist es mit dem Schlitten?«
»Eine halbe Stunde.«
»Dann mit dem Schlitten.«
Der Kutscher schnalzte mit der Zunge, und wir fuhren los. Es ging aus dem Dorf hinaus und dann in Kehren aufwärts. Das Sanatorium lag auf einer Anhöhe über dem Dorf. Es war ein langgestrecktes Gebäude mit langen Fensterreihen. Vor jedem Fenster befand sich ein Balkon. Auf dem Dache wehte eine Fahne im schwachen Wind. Ich hatte erwartet, es wäre wie ein Krankenhaus eingerichtet; aber es glich, wenigstens im unteren Stock, viel mehr einem Hotel. In der Halle brannte ein Kamin, und eine Anzahl kleiner Tische war mit Teegeschirr gedeckt.
Wir meldeten uns im Büro. Ein Hausdiener holte unser Gepäck herein, und eine ältere Dame erklärte uns, daß Pat Zimmer neunundsiebzig habe. Ich fragte, ob ich für ein paar Tage ebenfalls ein Zimmer haben könne. Sie schüttelte den Kopf.»Nicht im Sanatorium. Wohl aber in der Dependance.«
»Wo ist die Dependance?«
»Gleich nebenan.«
»Gut«, sagte ich,»dann geben Sie mir dort ein Zimmer und lassen Sie mein Gepäck hinüberbringen.«
Wir fuhren in einem völlig geräuschlosen Lift zum zweiten Stock hinauf. Oben sah es allerdings mehr nach Krankenhaus aus. Nach einem sehr komfortablen Krankenhaus zwar, aber immerhin nach Krankenhaus. Weiße Gänge, weiße Türen, alles blitzend von Glas, Nickel und Sauberkeit. Eine Oberschwester nahm uns in Empfang.
»Fräulein Hollmann?«
»Ja«, sagte Pat,»Zimmer neunundsiebzig, nicht wahr?«
Die Oberschwester nickte, ging voran und öffnete eine Tür.
»Hier ist Ihr Zimmer.«
Es war ein heller, mittelgroßer Raum, in den durch ein breites Fenster die Abendsonne schien. Auf dem Tisch stand ein Strauß gelber und roter Astern, und draußen lagen die beglänzten Schneefelder, in die sich das Dorf wie eine große, weiche Decke schmiegte.
»Gefällt es dir?«fragte ich Pat.
Sie sah mich einen Augenblick an.»Ja«, sagte sie dann.
Der Hausknecht brachte die Koffer.»Wann muß ich zur Untersuchung?«fragte Pat die Schwester.
»Morgen vormittag. Heute abend gehen Sie am besten früh schlafen, damit Sie ausgeruht sind.«
Pat zog ihren Mantel aus und legte ihn auf das weiße Bett, über dem eine neue Fiebertafel angebracht war.»Ist kein Telefon im Zimmer?«fragte ich.
»Es ist ein Anschluß da«, sagte die Schwester.»Man kann ein Telefon hereinstellen.«
»Muß ich noch irgend etwas tun?«fragte Pat.
Die Schwester schüttelte den Kopf.»Heute nicht. Erst morgen nach der Untersuchung wird alles festgelegt. Die Untersuchung ist um zehn. Ich hole Sie ab.«
»Danke, Schwester«, sagte Pat.
Die Schwester ging. Der Hausknecht wartete noch an der Tür. Ich gab ihm ein Trinkgeld, und er ging auch. Es wurde plötzlich sehr still im Zimmer. Pat stand am Fenster und sah hinaus. Ihr Kopf war ganz dunkel vor dem Glänzen draußen.
»Bist du müde?«fragte ich.
Sie drehte sich um.»Nein.«
»Du siehst so aus«, sagte ich.
»Ich bin anders müde, Robby. Aber dafür habe ich immer noch Zeit.«