Der Wirt deckte auf. Er hatte fünfzehn und sah mich zweifelnd an. Dann kaufte er weiter ein, ein As, und war kaputt. Ich zeigte meine Karten vor. Es waren nur zwölf Augen, und er hätte mit fünfzehn gewonnen gehabt.»Verdammt, jetzt höre ich auf«, fluchte er.»So was an gemeinem Bluff! Ich dachte, Sie hätten mindestens achtzehn.«
Alois meckerte. Ich strich das Geld ein. Der Wirt gähnte und sah nach der Uhr:»Fast elf. Ich glaube, wir machen Schluß. Kommt doch keiner mehr.«
»Da kommt noch einer«, sagte Alois.
Die Tür ging auf. Es war Köster.»Gibt's was Neues draußen, Otto?«
Er nickte.»Eine Saalschlacht in den Borussiasälen. Zwei Schwerverletzte, ein paar Dutzend Leichtverletzte und ungefähr hundert Verhaftungen. Zwei Schießereien im Norden. Ein Schupo tot. Weiß nicht, wieviel Verletzte. Na, und jetzt geht's ja wohl erst noch los, wenn die großen Versammlungen zu Ende sind. Bist du hier fertig?«
»Ja«, sagte ich.»Wir wollten gerade Schluß machen.«
»Dann komm mit.«
Ich sah zum Wirt hinüber. Er nickte.»Also, Servus«, sagte ich.
»Servus«, erwiderte der Wirt träge.»Nehmt euch in acht.«
Wir gingen hinaus. Draußen roch es nach Schnee. Flugblätter lagen wie große, tote, weiße Schmetterlinge auf der Straße.
»Gottfried ist nicht da«, sagte Köster.»Er steckt in einer dieser Versammlungen. Ich habe gehört, daß sie gesprengt werden sollen, und glaube, daß noch allerhand passieren wird. Es wäre ganz gut, wenn wir ihn vor Schluß erwischen könnten. Er ist ja nicht gerade der Ruhigste.«
»Weißt du denn, wo er ist?«fragte ich.
»Nicht genau. Aber ziemlich sicher in einer der drei Hauptversammlungen. Wir müssen sie abfahren. Gottfried mit seinem leuchtenden Haarschopf ist ja leicht zu erkennen.«
»Gut.«Wir stiegen ein und jagten mit Karl los zum ersten Versammlungslokal.
Auf der Straße stand ein Lastwagen mit Schupos. Die Sturmriemen der Tschakos waren heruntergelassen. Karabinerläufe schimmerten stumpf im Laternenlicht. Bunte Fahnen hingen in den Fenstern. Vor dem Eingang drängte sich eine Anzahl uniformierter Leute. Fast alle waren sehr jung.
Wir kauften zwei Billetts, lehnten Broschüren, Sammelbüchsen und Mitgliedserklärungen ab und gingen in den Saal. Er war voll besetzt und gut beleuchtet, um Zwischenrufer sofort herausfinden zu können. Wir blieben am Eingang stehen, und Köster, der sehr scharfe Augen hatte, musterte die Reihen.
Auf dem Podium stand ein kräftiger, untersetzter Mann und redete. Er hatte eine volle Bruststimme, die mühelos in den entferntesten Winkeln verständlich war. Es war eine Stimme, die überzeugte, ohne daß man viel darauf achtete, was sie sagte. Und was sie sagte, war leicht verständlich. Der Mann ging auf der Bühne umher, ungezwungen, mit kleinen Armbewegungen, ab und zu trank er einen Schluck Wasser und machte einen Witz. Dann aber stand er plötzlich still, voll dem Publikum zugekehrt, und peitschte mit veränderter, greller Stimme Satz um Satz hinaus, Wahrheiten, die jeder kannte, von der Not, vom Hunger, von der Arbeitslosigkeit, sich immer weiter steigernd, die Zuhörer mitreißend, bis er in einem Furioso herausschmetterte:»Das kann nicht so weitergehen! Das muß anders werden!«
Das Publikum tobte Beifall, es klatschte und schrie, als sei damit schon alles anders geworden. Der Mann oben wartete ab. Sein Gesicht glänzte. Und dann kam es, breit, überzeugend, unwiderstehlich, Versprechen über Versprechen, es regnete nur so Versprechen, ein Paradies erstand über den vielen Köpfen, es wölbte sich zauberhaft bunt, es war eine Lotterie, in der alle Lose Haupttreffer waren und in der jeder sein Privatglück und sein Privatrecht und seine Privatrache fand.
Ich sah mir die Zuhörer an. Es waren Leute aller Berufe, Buchhalter, kleine Gewerbetreibende, Beamte, eine Anzahl Arbeiter und viele Frauen. Sie saßen jetzt da in dem heißen Saal, zurückgelehnt oder vorgebeugt. Reihe an Reihe, Gesicht neben Gesicht, der Strom der Worte spülte über sie hin, und es war sonderbar: So verschieden sie auch waren, die Gesichter hatten alle den gleichen, abwesenden Ausdruck, einen schläfrig-süchtigen Blick in die Ferne einer nebeligen Fata Morgana, es war Leere darin und zugleich eine übermächtige Erwartung, die alles auslöschte, Kritik, Zweifel, Widersprüche und Fragen, den Alltag, die Gegenwart, die Realität. Der da oben wußte alles – er hatte für jede Frage eine Antwort, für jede Not eine Hilfe. Es war gut, sich ihm anzuvertrauen. Es war gut, jemand zu haben, der für einen dachte. Es war gut, zu glauben.
Köster stieß mich an. Lenz war nicht da. Er winkte mit dem Kopf nach dem Ausgang. Ich nickte, und wir gingen.
Die Saalwachen sahen uns finster und argwöhnisch nach. Im Vorraum stand eine Kapelle, fertig zum Einmarsch in den Saal. Ein Wald von Fahnen und Abzeichen dahinter.
»Gut gemacht, was?«fragte Köster draußen.
»Erstklassig. Das kann ich als alter Propagandachef beurteilen.«